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mangobelle Avatar

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Am 18. Oktober 1923 erblickte Alice Bernadette Theres Berglas das Licht der Welt. Sie wurde nicht nur in die Hochphase der Hyperinflation hineingeboren, sondern muss auch ohne Vater aufwachsen. Dieser nahm sich nämlich angesichts der galoppierenden Teuerung und anhaltender Arbeitslosigkeit drei Monate vor ihrer Geburt das Leben.
Aber im Mittelpunkt dieser (fiktiven) Geschichte steht nicht Alice, sondern deren Mutter Charlotte. Frisch verwitwet muss sie zusehen, wie sie im Berlin der 1920er Jahre über die Runden kommt. Berlin, eine Stadt, die zwar langsam den Rang einer offenen Weltmetropole erlangt, in der es Frauen aber immer noch äußerst schwer haben, allein ihre Wege zu gehen. Als langsam die Gegenstände ausgehen, die Charlotte auf dem Schwarzmarkt zu Geld und damit zu Lebensmitteln machen kann, schlägt ihr ihr Bruder Gustav vor, eine Wohngemeinschaft in der viel zu großen Wohnung einzurichten. Der Gedanke scheint nicht einmal so abwegig, werden doch aufgrund der Teuerung immer mehr Wohnungseigentümer gezwungen in Not geratene aufzunehmen. Warum nicht dem zuvor kommen und Kapital darausschlagen?

Was dabei herauskommt ist ein bunt gemischter Haufen. Da wäre zum einen Gustav, der nicht nur Charlottes Bruder, sondern auch ein Kleinkrimineller ist. Noch nie in seinem Leben zu harter Arbeit gezwungen verdient er sein Geld mit Pokern, Handtaschenraubzügen und Pferdewetten. Auch vor der heiligen Sammlung seines verstorbenen Schwagers macht er nicht halt, die er gewinnbringend in Dollar „umtauscht“.
Mit in die WG zieht sein Freund Heinrich, von allen nur „Langer“ genannt. Immerhin hat er als Tagelöhner immer mal wieder ehrliche Arbeit, aber auch verdient sein Auskommen eher durch kleine Diebstähle.
Der dritte ist der adlige Theo von Baumberg, dem die beiden nach einem Pokerabend begegnen. Wohlwissend, dass ein Mann, der mit einer Pistole fordert ihm eine sichere Bleibe zu sichern, nicht ungefährlich sein kann, verkaufen sie ihm Charlotte als ehrlichen Mieter. Immerhin ist er der Einzige, der seine Miete pünktlich und im vollen Umfang zahlen kann. Aber womit verdient er sein Geld?
Letzte Mieterin wird die lesbische Bardame Claire. Die Mitte 50gerin hat schon einiges in ihrem Leben durchgemacht und stellt mit ihrer Berliner Schnauze wohl so etwas wie die gute Seele der Wohngemeinschaft dar.

Die Handlung zieht sich von 1923 bis in den Sommer 1929 hinein, deckt also jenen Zeitraum ab, der gerne verklärend als die „Goldenen Zwanziger“ bezeichnet wird. Das diese Epoche alles andere als „golden“ war und das drohende Unheil der 1930er und 1940er Jahren unterschwellig schon überall brodelte, kann man aber hier schon mit wenig Geschichtskenntnissen erahnen.
Friedrich hat jeden ihrer Protagonisten einen anderen Weg gehen lassen. So stellt sie dar, wie schnell und als welcher Motivation heraus man in nationalsozialistische Kreise geraden konnte. Das ihr das gänzlich ohne Wertung und erhobenen Zeigefinger gelingt, rechne ich ihr hoch an.

Den Stil finde ich sehr gelungen. Zugegeben, ich mag es, wenn man sich etwas gewählter, aber nicht zu abgehoben ausdrückt. Die Sprache in typischen Frauenromanen ist mir zum Beispiel oft zu salopp, während ich aber mit dem klassischen Stil, in dem sich ein Satz über eine halbe Seite zieht, auch nichts anfangen kann.
Am besten, ich lasse euch auch mal probelesen, damit ihr merkt, was ich meine.

Ich war gefesselt und überaus begeistert von diesem Buch. Ein kleiner Wermutstropfen bleibt am Ende von diesem ansonsten sehr gut gelungen Buch. Die Liebesgeschichte zum Ende hätte echt nicht sein müssen. Nein, hätte sie nicht! Und erst recht nicht in diesem Stil, der vor Herzschmerz und Schnulzigkeit nur so triefte. Aber vielleicht war es angesichts der Zeit (1929) auch schwer ein passendes Ende zu finden.