Wie viel Nähe verträgt eine Familie?

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Als ihre Schwiegertochter Inge Boysen für tot hält und deren Kinder und Kindeskinder benachrichtigt, machen sich alle auf den Weg – fast alle, denn der eine Sohn ist nicht erreichbar, und ein Enkel konnte noch rechtzeitig erfahren, dass die Großmutter quicklebendig ist. Es ist kurz vor dem Jahreswechsel, als sie sich auf der Nordseeinsel versammeln, drei ihrer Kinder mit zwei Ehepartnern und drei Enkeln. Doch als sie sich wieder auf den Rückweg machen wollen, beginnt ein Schneesturm Haus Tide und seine Bewohner von der Außenwelt abzuschneiden. Drei Generationen unter einem Dach, aufeinander angewiesen in stürmischem Wetter, wenn sogar der Strom und die Telefone ausfallen – da beginnen die Gemüter zu kochen, alte Geschichten werden aufgewärmt, Emotionen bahnen sich ihren Weg. Was geschieht tatsächlich mit dem Haus, wenn Inge stirbt, muss es verkauft werden? Was, wenn auch der älteste Sohn und Bewohner des Hauses stirbt, weil er vielleicht einen Hirntumor hat, und was, wenn er sogar vor seiner Mutter stirbt?
Das und noch viel mehr Fragen tauchen auf, jeder der neun Bewohner hat seine eigenen Probleme mitgebracht. Es ist ein explosives Gemisch, das hier aufeinander trifft und ausgehalten werden muss, mal sind es harmlose Fragen, mal sind sie existentiell, und sie dringen in den wenigen Tagen dieser durch die Not geschaffenen Gemeinschaft auf eine Antwort. Das ist für den Leser immer mal wieder amüsant, aber er hat auch die Gelegenheit, sich selbst darüber Gedanken zu machen, wie man diese oder jene Frage am besten lösen könnte.
Doch die Lösung muss er sich tatsächlich selbst denken. Wie auch Inge Boysen es liebt, das Ende eines Buches hinauszuzögern, immer langsamer wird beim Lesen, so lässt uns die Autorin letztendlich allein mit einem Finale und bricht alle Handlungsfäden kurz vor dem Ende ab. Nun geht es mir genau anders herum: Wenn ich die Hälfte eines Buches geschafft habe, kann ich kaum noch aufhören zu lesen und auf den letzten Seiten werde ich, wenn möglich, nochmal schneller, denn ich will das Ende wissen. Und damit habe ich ein kleines Problem mit dieser Geschichte, die bewusst alle Fäden ins Ungewisse hängen lässt.
Ansonsten aber habe ich die Geschichte in vollen Zügen genossen, die vielen Geheimnisse, die ganz nebenbei aufgedeckt werden und die Handlung weitertreiben, die Entwicklungen, die alle Protagonisten durchmachen, die wundervolle Sprache der Autorin. Sehr schnell findet der Leser in die verschiedenen Handlungsstränge hinein, bangt und hofft mit jedem der Bewohner mit, diesen Wintergästen, die wie die Zugvögel den Abflug nicht rechtzeitig geschafft haben oder ohnehin überwintern wollten und dabei vom Wetter überrascht wurden. Wie viel Nähe verträgt eine Familie, das fragt sich der Leser immer wieder, und es ist erstaunlich, wie viel Nähe überhaupt möglich ist. Damit bietet sich eine wunderschöne Grundidee für dieses Buch – leider, wie schon gesagt, mit einem für mich unbefriedigenden Ende. Damit kann ich nur eine eingeschränkte Leseempfehlung ausstellen – wie schade!