Das gesellschaftliche Wesen

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rafiki Avatar

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Nach dem Leseeindruck des Buches wollte ich dieses unbedingt ganz lesen. Nach den ersten 30 Seiten hatte ich den Eindruck, dass es dem Autor nicht darum geht, eine Geschichte mit interessanten Personen zu erzählen, sondern viel mehr darum, was man an gesellschaftlichem Verhalten an jenen beobachten kann. So dachte ich zunächst, dass Max der Protagonist in dieser Geschichte sei. Dem ist aber nicht so, denn es werden auch Kapitel aus der Sicht seiner Frau Katriina und seinen Töchtern Eva und Helen verfasst. Ich dachte auch, dass Max als Soziologe und so wir er zu Beginn des Leseeindrucks gewirkt hat, ein guter Beobachter sei, nur nicht alles direkt gut deuten könne. Im Verlauf der Geschichte musste ich jedoch feststellen, dass Max kein besonders guter Beobachter ist. Wie auch jede andere Figur, die in diesem Buch auftaucht, sieht jeder durch seine Brille, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse der jeweiligen Zeit geprägt ist. Was alle aber gemeinsam haben, ist, dass jeder sich selbst im Mittelpunkt des Interesses sieht. Keiner merkt so genau, was eigentlich mit den Menschen um ihn herum los ist oder was diese bewegt, denn jede Figur ist von ihren eigenen Problemen eingenommen. Zumal betont werden muss, dass die durchgängige Unzufriedenheit und die Suche nach Glück sich wie ein roter Faden durch das Leben der Figuren zieht. Um einmal zu verdeutlichen, dass jede Figur mit sich selbst beschäftigt ist, zu reflektieren versucht, aber es nicht ausreichend schafft und auch ihre jeweilige Zeit in der sie lebt, widerspiegelt, möchte ich einmal näher auf Eva eingehen. Sie studiert in London Kunst. In einem Kapitel vergleicht sie sich mit den daheim gebliebenen und denkt, dass sie im Leben weiter gekommen ist, als all diejenigen in ihrem Alter, die in Stockholm geblieben sind. Ich finde, dieses Thema, des Vergleiches mit Daheimgebliebenen ist auch hier in Deutschland aktuell, in der Generation derjenigen, die ebenfalls zum Studieren von Zuhause weggehen und sich dadurch reflektierter fühlen, es aber oftmals aber nicht sind. Auch wird deutlich, dass Eva Angst hat, wie auch mehrere andere Figuren wie Malik, sich fest an etwas zu binden, sei es der Ort, ein Beruf, ein Kind, ein fester Freund. Sie hat Angst ein vorausgeplantes Leben zu führen, Verantwortung zu übernehmen, für jemand anderen auf Lange Zeit da zu sein, sich zu kümmern, sich quasi für einen anderen Menschen hinzugeben. Auch dieses Thema der Ungebundenheit ist ein Aktuellen unter jungen Erwachsenen.
Dadurch, dass jede Figur Ich-zentriert ist und einen Partner zum gemeinsamen Leben sucht, wird auch die Suche nach Anerkennung deutlich, bzw. auch die Problematik fehlender Anerkennung. Durch das eben gesagte, wirken die Figuren so, als würden sie ihr Leben ohne Leidenschaft für bestimmte Dinge bestreiten, als würden sie in ihrem Leben dahindümpeln. Folgendes Zitat möchte ich dafür bringen, dass jeder im Grunde nur seine oder ihre Rolle spielt: "Es war wie ein Schauspiel, das sie ihr ganzes Leben lang unbewusst, immer wieder geprobt hatte." (S. 82). Einen weiteren Punkt, den ich hier aufnehmen möchte, ist der Ausbruch aus der bestehenden Gesellschaft bzw. der Versuch eine ganze Gesellschaft zu verändern. Diesen unternimmt nämlich Russ, ein Freund von Eva in London. Diesen Protest, ja, er nennt es sogar Revolution, versucht er durch das Zelten vor dem Dom deutlich zu machen. Leider versandet diese Bewegung und schafft es nicht einmal mehrere Menschen zum reflektierten Denken und Überdenken der gesellschaftlichen Verhältnisse zu bewegen. Man könnte es aber auch so deuten, dass wir einerseits durch die gesellschaftliche Ordnung leben und sie uns andererseits einengt, und dies eben ein ständiger stiller Kampf ist, der die Gesellschaft an sich aus macht. Zu gesellschaftlichen Umbrüchen kommt es nur, wenn die Verhältnisse so schlecht sind, dass die Menschen nichts mehr zu verlieren haben oder die gesellschaftliche Ordnung von Oben ohne Konsens der Gesamtgesellschaft gegeben wird.
Hier noch ein paar Zitate, die das Buch gut beschreiben:
- "Eine Ursache für das Unglücklichsein, meint Paul, ist die Tatsache, dass wir ständig mit eine unendlichen Anzahl von Wahlmöglichkeiten konfrontiert werden." (S. 151)
- "Denn worum ging es denn sonst, als um einen Protest gegen die bösartige Welt? Als um den Traum von einer besseren Gesellschaftsordnung, einen sicheren Ort?" (S. 344)
- "Katriina betrachtet die Ehe als eine Form gegenseitiger Tyrannei, wie ein Leben in einem höhst effektiven, totalitären Staat. Man hatte selten eine Wahl, aber solange man sich um seine Sachen kümmerte und nichts infrage stellte, funktionierte es." (S. 29)
- "Nach Max Verständnis verwandelte sich die ganze Welt in eine einzige Galerie." (S. 36)
- "Heute konnte man nicht mehr erkennen, wo das Schaufenster aufhörte und der persönliche Wohnbereich begann." (S. 37)
Zum Schluss dieser Rezension möchte ich noch auf den Buchtitel hinweisen. Winterkrieg bezeichnet in der historischen Geschichte einen Krieg zwischen Finnland und der Sowjetunion. Der Krieg wurde dann durch einen Friedensvertrag beendet. Dabei konnte Finnland seine Unabhängigkeit zwar behalten, jedoch musste es Teile seines Gebietes abgeben. So ist also vielleicht auch dieses Buch zu verstehen. Im Kleinen beispielsweise, hat Katriina sich von Max scheiden lassen, beide haben dadurch Verluste einstecken müssen, aber sind an sich frei und unabhängig gewesen. Für Katriina war das gut und Max hätte diese Scheidung nicht gewollt. Im Großen betrachtet, muss jeder Zurückstecken und Bürden auf sich nehmen und ist trotzdem ein Subjekt. Es findet folglich eine Aushandlung zwischen gesellschaftlichen Normen und subjektiven Bedürfnissen statt. Dies endet im Grunde friedlich, wie der Winterkrieg, befriedigend ist es aber nicht.
Vielen Dank an den Autor für ein Buch, bei dem man zum Denken angeregt wird!