Familienepos gewaltig und dramatisch wie in einer Shakespeare Tragödie

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
kleine hexe Avatar

Von

Und an ein Shakespeare Drama erinnert dieses Buch: König Lear. Aufbau und Handlung des Romans sind an König Lear angelehnt: Genau wie König Lear hat Devraj 3 Töchter, Gargi Radha und Sita, und einen Berater Ranjit der zwei Söhne hat: Jeet und den unehelichen Jivan. Devraj ist kein König, aber er ist der Maharadscha eines nicht mehr existierenden Königreiches weil das von Indien annektiert wurde im Zuge der Unabhängigkeit von den Briten. Anstelle des Königreiches baut Devraj ein riesiges kaum überschaubares Firmenimperium auf, einfach „The Company“ genannt. Doch nun ist Devraj in die Jahre gekommen, er möchte sein Imperium unter den drei Töchtern aufteilen. Genau wie im Shakespeareschen Stück müssen aber die Töchter zuerst ihre Liebe zum Vater bezeugen. Die beiden älteren Töchter, Gargi und Radha erklären ihre Liebe zum Vater während Sita sich weigert und für die Rettung der Umwelt plädiert. Es kommt wie es kommen muss: Die beiden älteren Töchter verschwören sich gegen den Vater, die jüngste verschwindet. Doch wir leben im 21. Jahrhundert. Devraj ist nicht ganz machtlos. Er geht an die Öffentlichkeit, hält (wenn auch wirre) Reden, bringt die Menschen gegen seine Töchter auf. Dies ist eines der interessanten Aspekte des Buches: Shakespeare ins Hier und Jetzt versetzt. So würde vielleicht König Lear heute agieren, sich wehren, versuchen die Herrschaft wieder an sich zu reißen. Zum Unterschied jedoch zum Drama von 1603/1605 wo sich die Gestalten klar in Gut und Böse unterscheiden lassen, stellen wir in Tanejas Roman fest, dass jeder Dreck am Stecken hat. Devraj tötet oder misshandelt Diener, besticht und korrumpiert Politiker um seine Ziele durchzusetzen, verstößt gegen alle Gesetze die ihm in die Quere kommen um dann aber all diese Verstöße und Verbrechen seinen Töchtern anzulasten. Er sammelt die Menschenmassen um sich durch Lügen und hetzerische Reden.
Die drei Töchter wurden sehr autoritär erzogen, ständig mit dem übergroßen Vater vor Augen dem sie wöchentlich über alles und jeden Bericht erstatten müssen, vor allem aber über die Schwestern selber, alles unter den Augen der Großmutter, Devrajs Mutter Nanu. Radha, die mittlere Tochter wurde jahrelang von Ranjit, dem besten Freund, Berater und Kompagnon ihres Vaters sexuell missbraucht weil er angeblich sie am meisten von allen drei lieben würde. Ihre Rache an Ranjit ist bitter und verständlich, im Nachhinein betrachtet. Unter ihren Händen läuft die PR-Maschinerie wie geölt, alles ist wunderbar in The Compay.
Gargi, die ältere Tochter, sorgt dafür dass für sämtliche Vorhaben der Company keine lokalen Arbeitskräfte eingestellt werden. Sie werden aus anderen Teilen Indiens herangezogen. Dadurch können sie nicht ihre Rechte einfordern, müssen Niedrigstlöhne und schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren.
Jivan, Ranjits unehelicher Sohn wurde mit 13 Jahren mitsamt seiner Mutter in die USA geschickt und kehrt nun, nach dem Tod der Mutter und dem abgeschlossenen Harvard Studium nach Indien zurück, bereit seinen Teil an der Company einzufordern und die beiden älteren Schwestern gegeneinander auszuspielen. Ach ja, Sita hat er auch am Gewissen.
Jeet, sein legitimer Bruder hat unter dem Deckmantel der Company illegalen Antiquitätenhandel getrieben und jahrelang seine homosexuelle Neigung verschwiegen. Als er diese Heimlichtuerei nicht mehr aushält flieht er und lebt als Asket in einem Slum in Srinagar am Rande einer Müllhalde. Von da kommt er nur heraus um seinen erblindeten Vater Ranjit zu retten.
Im Buch geht es gleichzeitig auch um mehr als um das Wiederbeleben eines alten Tragödienstoffes mit neuen Inhalten. Es geht nicht nur um den Kampf der Jungen gegen die Alten, es geht auch um die Gegenwehr der Frauen gegen die Männer, seien es Väter, väterliche „Freunde“ oder Ehemänner und Liebhaber.
Der Roman ist aber auch ein Panoramabild Indiens: wie die Superreichen leben in ihren abgeschotteten Palästen und Arealen aber auch wie das Leben in einem bitterarmen Slum verläuft, wo die einzige Einkommensquelle die Suche nach verwertbaren Resten im Müll ist. Dazwischen die Mittelschicht, ständig von Armut bedroht und dabei darauf bedacht, ein glamouröses Leben zu führen, oder wenigstens die Produkte der The Company zu kaufen, um den Anschein des glamourösen Lebens zu wahren.
Vielschichtig, farbenfroh beeindruckend. Indien.