King Lear in Delhi

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amara5 Avatar

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"Wir, die wir jung sind" von Preti Taneja ist im C.H. Beck-Verlag erschienen und ein 630 Seiten langes Familienepos, das im modernen Indien spielt und an Shakespeares "King Lear" angelehnt ist.

Der alternde, launische Patriarch und Tycoon Devraj Bapuji, Chef des vielseitig aufgestellten Großkonzerns The Company (der für fast alle Bereiche des modernen indischen Lebens steht) bereitet sich darauf vor, seine Geschäfte abzugeben - aber an wen? Er hat drei Töchter (Gargi, Radha und Sita), sowie Jeet, ein Nachkomme von Devrajs rechter Hand Ranjit. Ein sarkastischer und brutaler Streit um das Nachfolger-Erbe entfacht, in dem so mancher seinen Verstand, seinen Anstand oder gar sein Leben verliert.

"Wir, die wir jung sind" ist aus den Schlusszeilen von Shakespeares "King Lear", "Ich bin doch noch jung" lautet der Refrain eines im Roman zitierten Gedichts aus Indien - und so lässt auch die Autorin mit voller Wucht die alte Tragödie ins Indien des 21. Jahrhundert aufeinanderprallen und schnitzt dennoch eine ganz eigene, breitgefächerte Geschichte, die aus der Sicht von fünf Personen mit je eigenem Duktus erzählt wird. Zwischendurch kommt immer wieder Devraj (hier "King Lear") mit seinen Erinnerungen zu Wort.

Der Leser taucht hautnah ein in das moderne Delhi, so temporeich wie das Leben in einer der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt,
in den heftigen Gegensatz von Arm und Reich - die junge Autorin Preti Taneja beschreibt das massive Verschwendertum der Familie mit Essen, Alkohol, Party, Kleidung und Inneneinrichtung so detailliert, dass man meint, alles direkt vor der Nase zu haben. Umso brutaler sind auch die Gewalt- und Erniedrigungsszenen, innerhalb der Familie oder außerhalb, wenn beispielsweise die überreiche Tochter Radha im klimatisierten Auto durch Delhi kutschiert wird und hinter den Fenstern perfide nach der hässlichsten Gestalt auf der Straße Ausschau hält.

Und je weiter die Tragödie ihren Lauf mit dem psychischen und physischen Verfall des immer boshafter werdenen Devraj wird, desto abstruser lässt sich im hinteren Teil auch der Geschichte folgen - doch die Mühe lohnt sich, denn die Menschenrechtsaktivistin Taneja erzählt präzise und gewaltig und lässt inhaltlich wie stilistisch noch viel mehr in den Roman einfließen, als ich im Gesamtkontext beim ersten Lesen überhaupt verstehen konnte (Hindu-Schriften, Dante, Sufi-Dichter, Virginia Woolf, Kaschmir-Konflikt; Grüne Revolution, religiöser Fanatismus, Gewalt gegen Frauen, Korruption, globaler Kapitalismus).

"Wir, die wir jung sind" ist insgesamt ein großer, wilder Sturm an Eindrücken, Verflechtungen, sozialen Beobachtungen, aktueller Politik, Wörtern und stilistischen Formen - fast schon schwindelerregend, aber insgesamt ist ein originelles Gesamtwerk entstanden, das sich einprägt und Eindruck hinterlässt. Nicht nur ein Familienepos, sondern auch ein künstlerisch konstruiertes Porträt über eine komplexe Nation im Wandel.

"Es geht nicht um Land, es geht um Geld."