Schöne Idee, aber problematische Umsetzung. Bitte Triggerwarnung beachten!

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henrike von buchstabensalat.net Avatar

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Hinweis: In der Rezension auf meinem Blog (buchstabensalat.net/rezension-wir-fur-uns) sind verschiedene Stellen verlinkt, auf die ich mich bei meiner Kritik stütze. Diese Links füge ich hier auf vorablesen nicht extra ein.


Wir für uns tanzt bei den Büchern, die ich meistens lese, etwas aus der Reihe. Denn die Protagonistinnen sind sehr viel älter als ich: eine ist über vierzig, die andere längst im Rentenalter. Ich fand den Klappentext, der Selbstfindung und Selbstbestimmung versprach, aber spannend genug, um dennoch nach dem eBook zu greifen.

[Klappentext]

Auch nach der Lektüre gefällt mir die Idee, die hinter Wir für uns steckt und die hier im Klappentext beschrieben wird. Die Umsetzung bereitet mir aber Bauchschmerzen, denn leider wird mit verletzender Sprache gearbeitet und zwei elementare Aspekte der Handlung werden in dieser Beschreibung nicht einmal genannt. Da ich in meiner Rezension darauf eingehe, beachtet bitte die Triggerwarnung an dieser Stelle.

Wir für uns verwendet verletzende Sprache. Diese betrifft die Ablehnung von Homosexualität durch einen Elternteil und Rassismus gegen immigrierte Personen sowie (stellenweise) abwertende Begriffe in Bezug auf Trisomie 21. Das Buch selbst hat keine Triggerwarnung.
Diese Wortwahl kann vor allem von betroffenen Personen als verstörend empfunden werden. Bitte schätzt selbst ein, ob ihr euch damit konfrontieren könnt oder möchtet.

Protagonistinnen und dörfliches Leben

Mir gefällt die Idee der Autorin, in Wir für uns zwei Frauen vor neue Herausforderungen zu stellen – und zwar vor dem Hintergrund, dass diese Frauen nicht mehr Anfang zwanzig sind. Josie hat mit Anfang Vierzig seit neun Jahren eine Affäre mit einem verheirateten Mann und ist unerwartet schwanger. Was nun? Kathi muss damit fertig werden, ihr Leben von jetzt auf gleich ohne ihren Mann zu verbringen und erinnert sich an einen alten Wunsch, der aber nicht so einfach umzusetzen ist. Beide sind auf unterschiedliche Art an gesellschaftliche und familiäre Erwartungen geknüpft und müssen mit der Entwicklung von Plan B erst lernen, den eigenen Wert zu erkennen und für sich selbst einzustehen. Dieser Aspekt hat mir sehr gefallen.

Die Beschreibung des dörflichen Lebens ist sehr realitätsgetreu. Kunrath schafft es, das Gefühl von jeder-kennt-jeden sehr treffend zu beschreiben. Leider kommen dabei auch Vorurteile und die Ablehnung alles Neuen und Individuellen nicht zu kurz. Wenn ich mich an meine Kindheit auf dem Dorf zurückerinnere und mal überlege, welche Haltung viele der (meist, aber nicht ausschließlich, älteren) Ortsansässigen selbst heute noch vertreten – puh. Die Darstellung ist also realistisch, aber teilweise ziemlich schwere Kost. Denn es ist eine Gratwanderung zwischen guter Beschreibung der Realität und Verletzen durch Sprache. Hier hätte es zumindest mehr Reflexion der verletzenden Sprache geben müssen, und zwar nicht nur durch eine selten auftretende Nebenfigur.

Verletzende Sprache und ungenügendes Lektorat

Denn die Wortwahl in Wir für uns ist mir sehr, sehr negativ aufgefallen. Im Allgemeinen schreibt die Autorin ganz normal, wie man im Alltag eben spricht. Aber wenn es um die Homosexualität eines Mannes geht oder um Immigrant*innen, an einer Stelle auch um die schwarze Hautfarbe einer Person, dann verwendet Kunrath leider ein mindestens problematisches, wenn nicht sogar abwertendes Vokabular aus der untersten Schublade.

Mein Erklärungsversuch (der keineswegs als Entschuldigung gelten kann und soll, es geht mir nur um eine Hypothese, wie es dazu kam): Die Autorin ist 1960 geboren und wie jeder andere Mensch auch ein Kind ihrer Zeit. Sie ist mit einer anderen Wortwahl aufgewachsen als es heute üblich ist. Und zusätzlich hat das Buch vielleicht kein ausführliches Lektorat bekommen. Das ist, wie gesagt, nur eine Vermutung und wird bitte auch als solche verstanden!

Woran ich diese Vermutung festmache: nicht nur inhaltlich gibt es Dinge, die im Lektorat hätten geändert oder entfernt werden können/müssen, sondern auch formal. So hat das eBook, das mir via NetGalley vom Verlag zur Verfügung gestellt wurde, einen falschen Titel. Das Cover ist das gleiche, aber der Titel im Inneren des Buches, der auch oben auf jeder Seite in der Kindle-App angezeigt wird, ist falsch: dort steht Wir werden bleiben anstelle von Wir für uns. Wahrscheinlich wurde der Titel im Lauf des Entstehungsprozesses gewechselt, aber in einem Buch, das als fertiges Produkt an Leser*innen geht, sollten solche Fehler nicht mehr vorkommen. Besonders, wenn es auf jeder einzelnen Seite falsch dasteht.

Aber kommen wir zurück zur Sprache. Man könnte jetzt argumentieren, dass die Figur, aus deren Perspektive diese problematische Wortwahl überwiegend stammt, über sechzig und deshalb mit anderen Gebräuchlichkeiten aufgewachsen ist. Genau wie ich es oben mit der Autorin gemacht habe. Nur verwendet auch die zweite Protagonistin verletzende Worte. Und selbst wenn es eine wirkliche Begründung gäbe, warum Figur X auf diese Weise reden und denken müsste: eine Triggerwarnung im Buch fehlt trotzdem.

An dieser Stelle möchte ich nicht mehr um den heißen Brei herumreden und ganz klar zeigen, welche Begriffe mich stören. Für diesen Zweck schreibe ich die Worte ausnahmsweise aus. Dazu möchte ich aber auch betonen, dass ich nicht persönlich betroffen bin und nur nach meinem Bauchgefühl und jeweils einer kurzen Begriffsrecherche gehe. Das bedeutet, dass auch Autorin und Lektorat nicht mehr als 2 Minuten pro Begriff/Szene gebraucht hätten, um zu wissen, dass es so nicht geht.


SPOILER: ANFANG


„Asylanten – Wie kleine Kinder – ‚Seit die da wohnen, schließe ich mich abends immer ein. Man fühlt sich ja nicht mehr sicher'“
Die Aussage, Immigrant*innen seien wie kleine Kinder, stammt von Kathi. Sie kritisiert Hilde in Gedanken für deren „man fühlt sich nicht mehr sicher“, aber verwendet trotzdem selbst abwertende Sprache. Kathi spricht zusätzlich von „Asylanten“, was oft im negativen Sinn verwendet wird. Entweder hat die Autorin bewusst so entschieden oder sie sieht die Problematik des Begriffes nicht. Und der Vergleich von erwachsenen Menschen mit „kleinen Kindern“ – ich hoffe, ich muss nicht erst erklären, was daran nicht okay ist?

„Egal, wie man es nennt, es klingt schäbig.“
Max ist Kathis Sohn. Und Kathi ist diejenige, die diesen Satz denkt. Auch hier sehe ich eigentlich keinen Erklärungsbedarf.

„mongoloid“
Die Rede ist von Trisomie 21. Babette ist die Schwester von Josie, die vor Josies Geburt starb, weshalb in ihrer Familie nicht über Babette gesprochen wird. Und Josie erfährt jetzt erst, dass ihre Schwester das Down-Syndrom hatte. Die Aussage, die ich hier markiert habe, trifft ihr Bruder, und es wird an keiner Stelle weiter darauf eingegangen, dass der Begriff problematisch ist. Denn „mongoloid“ sagt man heute nicht mehr im Zusammenhang mit Trisomie 21. Das hätte spätestens im Lektorat korrigiert werden müssen.

Besonders bitter finde ich die Verwendung deshalb, weil die Autorin in ihrem Nachwort betont, wie intensiv sie zu diesem Thema recherchiert habe. Sie scheint zwar reflektiert genug zu sein, um das potenzielle Minenfeld der Sprache zu erkennen. Und doch ist ihr dieser veraltete, abwertende Begriff in einem Buch aus dem Jahr 2021 durchgerutscht.

In dem Nachwort geht es übrigens ausschließlich um den Umgang mit Behinderung, die anderen hier aufgeführten Probleme finden keine Erwähnung. Ich zitiere:

Zitat: Anfang
„Soll ich Trisomie 21 schreiben oder Down-Syndrom? Dürfen äußerliche Merkmale aufgezeigt werden, oder verletze ich damit Betroffene? […] Im Austausch mit meinen Lektorinnen habe ich alle Momente, die dieses Thema berühren, noch einmal genau angeschaut. Mir war wichtig, dass im Text immer sichtbar bleibt, dass es sich um Josies individuelle Perspektive handelt. Emotional, reflektiert, dabei aber stets liebevoll. […]
[W]eder der Text als Ganzes noch ich als Autorin heißen Stigmatisierung und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung gut. […] Sollte der Text dennoch jemanden verletzen, bitte ich an dieser Stelle um Verzeihung. Es geschah nicht mit böser Absicht. Es zeigt jedoch, wie weit wir alle noch bis zu diesem gleichwertigen Miteinander gehen müssen und wie tief Behindertenfeindlichkeit auch in der Sprache steckt.“ (Position 3963 von 4011, Kindle-App)
Zitat: Ende

„farbige“
Josie erzählt, dass sie von ihrer Mutter ein Buch geschenkt bekommen hat. Darin geht es um „eine junge, farbige Frau, die von ihrem Vater abgelehnt wird, weil er glaubt, sie sei ein Kuckuckskind.“ Erstens hat dieses Buch keinerlei Relevanz für die Handlung, man hätte diesen Absatz also einfach rausstreichen können. Und zweitens spricht man nicht von „farbigen“ Menschen, schon allein wegen der Historie des Begriffs. Auf den beschriebenen Plot des Buches im Zusammenhang mit einem*r schwarzen Progagonist*in gehe ich gar nicht erst ein.

„zu dieser Zeit noch strafbar“
Die Rede ist erneut von Babette, Josies Schwester. Ihre Mutter habe über Abtreibung nachgedacht, als sie die Information bekam, dass ihr Baby Trisomie 21 haben würde. Und hier wird in der Vergangenheitsform geschrieben, dass Abtreibung damals strafbar war. Das allein ist erstmal völlig richtig.

Viel wichtiger ist aber, dass hier impliziert wird, dass es heute anders sei. Und das ist nicht der Fall! Es steht sogar in der Wikipedia, sodass nicht einmal eine tiefergehende Recherche nötig ist um das zu korrigieren: „Der Schwangerschaftsabbruch wird in Deutschland […] mit Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft.“ Präsens. Ja, es gibt Mittel und Wege. Unter bestimmten Voraussetzungen kann man eine Abtreibung durchführen (lassen). Aber strafbar ist sie nach geltendem Recht selbst heute noch, was Kunrath hier falsch darstellt.


SPOILER: ENDE


Diese Stellen sind mir besonders negativ aufgefallen, aus verschiedenen Gründen: sachlich falscher Inhalt, rassistische Sprache, homofeindliche Sprache. Das alles sind für mich Dinge, die schlicht nicht hätten sein müssen. Man hätte Ablehnung und Vorurteile auch ausdrücken können, ohne diese Worte zu verwenden. Stattdessen haben sowohl die Autorin als auch das Lektorat entweder nicht genau genug hingeschaut, keine Lust auf/Zeit für Korrektur und die damit einhergehende Recherche gehabt oder aber sie wussten es nicht besser. Und ich weiß wirklich nicht, welche Variante ich am schlimmsten finde.

Fehlt im Klappentext komplett: Umgang mit Trisomie 21 und Homosexualität als wesentliches Handlungselement

Der Umgang mit Trisomie 21 und Homosexualität sind sehr wichtig in Wir für uns, weil sie beide Protagonistinnen grundlegend beeinflussen. Und doch werden sie einfach Null Komma gar nicht im Klappentext erwähnt. Oder in der Beschreibung des Verlags auf Online-Plattformen. Nirgendwo. Man muss das Buch erst lesen, um zu merken, dass das handlungstreibende Aspekte sind, dass sie überhaupt vorkommen.

Abgesehen von dem Zitat oben geht die Autorin meiner Meinung nach ganz gut mit dem Thema Trisomie 21 um. Sie hat eine Nebenfigur geschrieben, die die restlichen Charaktere aufklärt, was Vorurteilen schnell den Wind aus den sprichwörtlichen Segeln nimmt. Jedenfalls bei Charakteren, die erstmals mit dem Thema konfrontiert werden. Figuren, die Vorurteile schon verinnerlicht haben, korrigieren diese nicht so schnell.

Aber die Homosexualität einer weiteren Figur wird ganz anders behandelt. Hier gibt es nur Ablehnung, Verwirrung, wochenlanges Schweigen, gedankliche Kämpfe gegen die verinnerlichte Abscheu, alles aus der Sicht eines Elternteils, das erstmals von der Homosexualität dieser Figur erfährt. Nach dem Motto „warum tut er mir das an“ oder „was habe ich in der Erziehung falsch gemacht“. Bis zum Ende gibt es keine vollkommene Akzeptanz. Es ist einfach grauenhaft. Und das sage ich als nicht betroffene Person. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese Beschreibungen in Menschen lostreten können, die selbst mit solcher Ablehnung leben müssen! Auch hierfür fehlt eine Triggerwarnung.

Fazit

Wir für uns ist vor allem dank des flüssigen Schreibstils gut zu lesen und erscheint mir (leider) sehr realistisch. Aber die verletzende und vor allem abwertende Wortwahl stört mich zu sehr, um das Buch und die schöne Grundidee genießen zu können. Da hätte das Lektorat stärker eingreifen oder zumindest eine Triggerwarnung platzieren müssen.