Wie gerne wir uns täuschen lassen

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Es ist eher selten, dass eine Autorin recht offenkundig darlegt, wie nah sie an der Wirklichkeit entlang schreibe, ihre Figuren Versionen ihrer selbst seien und sie sich nicht jegliche Verbindung zwischen Autorin und Werk verbiete. „Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht“, offenbart Judith Hermann in „Wir hätten uns alles gesagt“, ihrer Frankfurter Poetikvorlesung aus dem Jahr 2022.

In ihren poetologischen Überlegungen verdeutlicht Judith Hermann zugleich, dass Autorin und erzählendes Ich natürlich nie komplett übereinstimmen. Der reale Kern bewegt sich im Prozess des Schreibens, zieht Kreise um sich selbst, die mal in kleinerer oder größerer Distanz zum schreibenden Ich, der eigenen Familie oder anderen realen Personen stehen. Durch den Erzählvorgang verändern sich diese Kreise zudem durch Brechungen und Verzicht und ziehen neue Radien, die Möglichkeitsräume oder Wunschgefühle auftun.

Judith Hermann gibt in ihrer Frankfurter Poetikvorlesung Einblick in ihr eigenes Schreiben und private Zusammenhänge, sie erklärt ihre literarische Figurenzeichnungen anhand eines erzählenden Momentes mit ihrem vermeintlich realen Analytiker, der umso stärker verdeutlicht: In der Literatur begeben sich alle Seiten zu jeder Zeit in einen Täuschungsprozess und geben sich einem wunderbaren Konjunktiv hin. Selbst in einer Poetikvorlesung.
Sehr lesenswert!