Biografisches über Herkunft, Familie, Altern und das Schreiben

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In der schriftlichen Form ihrer Frankfurter Poetikvorlesungen von 2022 setzt Judith Hermann ihrem Erzählband „Sommerhaus, später“ autobiografische Texte entgegen, die sich mit dem Lebensgefühl in einem Berliner Kiez, einer kapriziösen Großmutterfigur, einer Autorin und ihrer Psychoanalyse und dem Sommerhaus der Familie befassen.

Wenn Hermann „an ihrem eigenen Leben entlang“ schreibt, sei sie ihre Figur und doch wieder nicht, verrät die Autorin. Da Hermanns literarisches Ich im Stadtviertel wohnt, in dem sich die Praxis ihres Psychoanalytikers befindet und eine enge Beziehung zu einer Mitklientin aufnimmt, wirkt die Balance zwischen Autorenhandwerk und Schutz realer Personen hier besonders kunstvoll. Mit Ada verbringt Judith Hermanns Figur Zeit im Sommerhaus, das dem ersten Erzählband den Titel gab. Die besondere Beziehung zur Großmutter, die einen interessanten Lebensabschnitt in Russland aufzuweisen hat, führt in komplizierte Familienverhältnisse und zeigt eine erbliche Disposition zu Depressionen auf. Das Haus wiederum bietet die Gelegenheit, Distanz zur Familie zu schaffen und mit einer eigenen Wahlfamilie zu experimentieren.

Hermanns ineinander verschachtelte biografische Elemente erinnern mich an ihr ebenso verschachteltes Puppenhaus, das ihr Vater für sie baute. Selbst dieses therapeutische Werkzeug könnte nur schwer den Bezug zwischen Leben, Herkunft, Schreiben, Analyse und Lebensraum aufzeigen, den die dreiteilige Poetikvorlesung liefert.

Nach diesem Band habe ich das „Sommerhaus“(1998) erneut gelesen, an das ich wenige Erinnerungen hatte. Das Andocken von Hermanns autobiografischem Text an die jeweiligen Kurzgeschichte fand ich hochinteressant, aber nicht so entscheidend, wie manche Leser:innen es erwarten. Insgesamt nimmt Hermanns Auseinandersetzung mit dem Schreiben und dem dazu nötigen Verbergen, sowie mit dem Altern der schreibenden Person einen eigenständigen Platz ein.

Das „Sommerhaus“ erscheint zugleich in einer gebundenen Neuauflage.