Eine Geschichte über Geschichten

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darkola77 Avatar

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Was ist der Kern der Geschichte? Was ist ihr Ursprung, das Samenkorn, aus dem sie entsteht und gedeiht?
Judith Hermann geht diesen Fragen für sich nach, richtet den Blick nach innen, spürt analytisch dem roten Faden nach, der die Geschichten miteinander und mit ihr selbst verbindet. Der Weg führt sie dabei weit zurück: in ihre Kindheit, zu ihrer Familie – sowohl im biologischen Sinne zu verstehen als auch bezüglich ihrer sozialen Wahlfamilie –, zu den Jahren der Auseinandersetzung mit sich und ihrem Denken. Unter professioneller Anleitung.
Das Ergebnis ist erstaunlich offen. Schonungslos. Privat mag es mir sogar erscheinen, als ein Eindringen in ihren Kopf und ein Blick auf bisher gut Behütetes – auch, so betont Hermann, wenn das Eigentliche, Wesentliche von ihr weiterhin verborgen würde. Und doch erlaubt sie vieles den Leser*innen zu sehen: die psychische Erkrankung ihres Vaters, welche die Ehe ihrer Eltern ebenso bestimmte wie ihre eigene Kindheit, die Nazivergangenheit ihres Großvaters, den Tod eines Freundes, den Verlust von weiteren.
All dies fließt für Hermann in ihr eigenes Schreiben ein, das sich an ihrem eigenen Leben entlanghangele. Ein anderes Schreiben kenne sie für sich nicht, betont Hermann, könne sie sich selbst nicht vorstellen. Damit sind ihre Texte immer auch Erzählungen über sie selbst, „verfremdet und entstellt, bis nichts mehr richtig ist und dennoch alles wahr“.
Das Ergebnis der Spurensuche ist eine offenbarende, fesselnde und hoch interessante Collage und eine Geschichte über Geschichten, welche die deutsche Gegenwartsliteratur geprägt haben – und die mir nun teils im neuen Licht und mit verändertem Zugang erscheinen, jetzt, wo ich all dies wissen und erfahren durfte. Das lädt zum erneuten Lesen und vor allem zur Hochachtung vor einer Autorin ein, die sich selbst nicht nur mit detektivischem Scharfsinn zu Leibe rückt sondern uns bei der Öffnung und Sektion einen Platz in der ersten Reihe einräumt.