JEDE GESCHICHTE HAT IHREN ERSTEN SATZ

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„Wir hätten uns alles gesagt“ lautet der Titel des aktuell vorliegenden Buches der Autorin Judith Hermann. Natürlich wird nicht alles zur Sprache kommen. Doch das, was gesagt wird, zieht Leser:innen magisch an. Und worum geht es? Ums „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“.

Es wird vieles gesagt, aber nicht alles, denn in diesem Ablauf überraschender Szenen, Gespräche und Begegnungen in der Familie wie im Freundeskreis dürfen Leser:innen nie ganz sicher sein das wirklich wahre Leben zu erfahren.

Erzählt wird vom Schreiben und dem ersten Satz im Kopf der Autorin, ein Bild oder ein Moment, der etwas freisetzt und mit dem sich eine Geschichte entwickeln lässt.

In erster Linie dominiert in "Wir hätten uns alles gesagt" die Nähe zur Autorin, das rein Private, die Privatsphäre mit vielen persönlichen Erinnerungen der Autorin aus der Kindheit, Begebenheiten über einen längeren Zeitraum an wechselnden Orten, das Schildern vieler unterschiedlicher Ansichten, von den Eltern und den Großeltern bis zum plötzlichen Todesfall eines Freundes und dem Verhalten in der Pandemie.

Nur die Autorin allein weiß, wie weit sie gehen darf.
Leserinnen und Leser werden konfrontiert mit Gedanken aus dem Alltag, mit Problemen, Krankheiten, dem Sein und dem Wollen.
Das Verschweigen oder Verschwinden wird nie offensichtlich. Es schwingt unterschwellig mit. Mal kommen Zweifel zur Sprache, mal sind es Entschlüsse, Verhaltensweisen oder Gespräche zwischen Freundinnen.

Oftmals werden Situationen auch in Träumen erklärt, die tatsächlich so hätten stattfinden können. Judith Hermann weiß genau, wie weit sie gehen darf, wann sie mit der Nähe der Anderen normalerweise alles sagen kann oder warum sie nur in Andeutungen ins Nicht-Sagen ausweicht.

Weil die Grenzen des Sagbaren nicht immer klar sind, eher verschwommen, erwähnt sie selbst, was wie und wo gewesen sein könnte und warum es doch ganz anders hätte sein können, bevor das schon wieder zu viel wäre.

Normalerweise bemerken Leser:innen das nicht, aber wie es gesagt wird, das ist große Kunst. Und das macht das Lesen zum wirklichen Vergnügen. Am Ende des Buches fragt man sich, ob es gut wäre, alles noch einmal zu lesen, um das Unsagbare im Denken und Handeln zu erforschen. Wird es möglich sein, alles zu erfahren? Das ist viel zu riskant, denn die Wirklichkeit könnte Leser:innen vor den Kopf stoßen.

Ursprünglich geschrieben waren die Texte für die traditionsreichen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, die im Mai 2022 an drei Abenden stattfanden.

Jetzt stehen die Texte in Buchform - erschienen im S. Fischer Verlag - allen Interessierten zur Verfügung. Damit ist das Leseabenteuer allen Hermann-Fans zugänglich. Ein wahrhaftiges Vergnügen auf rund 180 Seiten. In jedem Fall herausstechend ist das Erlebnis mit dem unverwechselbaren Sound Judith Hermanns.