Tolles Leseerlebnis!

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frischelandluft Avatar

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Ein Buch, das eine Vorlesung über das Schreiben ist, und das sich liest wie eine Erzählung.
Die Erzählerin, die sich manchmal als Autorin outet und es dann wieder ad absurdum führt, „beschreibt“ im besten Sinne, in „showing, not telling“ die Grundbausteine von Literatur: Autor, Erzähler, Wahrnehmung, Perspektive, Erinnerung, Leerstellen und Verschweigen, Zeit des Geschehens versus Zeit des Erzählens, Reflektion, Lesererwartung, Leserreaktion, Interaktion Autor – Buch und Buch – Leser, Loslösung der Erzählung vom Kontext des Schreibens, offenes und geschlossenes Ende, Loslassen.
Es fasziniert mich und macht riesigen Spaß, wie Hermann mit Fiktion quasi einen Einführungskurs in die Literaturwissenschaft gibt vom Schreibprozess bis hin zur Rezeption. Ganz ohne Holzhammer werden die Themen behandelt, eingebettet in die sehr persönliche Lebensgeschichte der Ich-Erzählerin, ihre Herkunft, ihr Lebensweg, wie sie tickt, was sie zum Schreiben gebracht hat, wie sich ihr Schreiben und ihr Leben in einer steten Wechselwirkung bewegen. Sie reflektiert über Erlebtes, stellt ihre Erinnerungen in Frage, verwandelt ihre Erinnerungen dadurch in eine Erzählung und übergibt schließlich dem Leser die Aufgabe, daraus Sinn zu lesen. Die Grenzen zwischen Realität, unmittelbarer und mittelbarer Wahrnehmung, Erkenntnis, Erinnerung und Verarbeitung als Fiktion verschwimmen. Am Ende nimmt sich die Erzählerin gegenüber dem Geschriebenen zurück und fügt eine Metaebene hinzu. Sie schreibt über die Worte, mit denen sie das Schreiben einer Geschichte beginnt: „Es kann sein, dass sie nach all den Jahren dann doch mit etwas verbunden sind, das über mich hinausgeht, alles Persönliche hinter sich gelassen hat. Mich entlässt.“
Die Sprache ist klar, poetisch, sie trägt einen flüssig und klug unterhaltsam durch die Vorlesungen. Hermann nimmt immer wieder Bezug zu ihren Erzählungen, die ich leider (noch) nicht kenne, die ich jetzt aber lesen werde.
Überaus lesenswert, nicht nur für Germanisten