Blut ist immer dicker als Wasser

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heather_h Avatar

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Anne Gesthuysen erzählt in ihrem Familienroman die wahre Geschichte ihrer drei Großtanten Gertrud, Paula und Katty und bettet sie in den historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext des 20. Jahrhunderts ein.

Gertrud ist die älteste der drei Schwestern. Im Alter von 20 Jahren lernte sie Franz Hegmann kennen und er verlobte sich mit ihr gegen den ausdrücklichen Rat seines Bruders Heinrich. Heinrich hat in aller Öffentlichkeit die Autorität des sich wenig durchsetzenden Vaters untergraben und sich damit selbst zum Familienoberhaupt erkoren. Um die nicht standesgemäße Heirat von Gertrud und Franz aufzuschieben, leitet er in die Wege, dass Franz vom Militär einberufen wird. Er wird Pilot und verliert einen Luftkampf über Amsterdam. Gertrud verzeiht Heinrich nie. 1927 lernt sie in Berlin den wortgewandten und gebildeten Karl Liechtenstein kennen und lieben, lehnt jedoch seinen Heiratsantrag ab, als sie erfährt, dass er Jude ist. Sie heiratet nie.
Paula lernte Alfred mit 18 Jahren kennen. Sie verloben sich sehr schnell, schieben jedoch die Heirat auf, nachdem Gertruds Verlobter im Krieg fällt. 1920 entdeckte Paula, dass sie schwanger ist und so heiraten sie kurz darauf. Sie bekommt vier Jahre später ein zweites Mädchen, doch die Leidenschaft zwischen dem Paar schläft langsam ein und während seiner Kriegsgefangenschaft 1945-1946 entdeckt Alfred seine homosexuellen Neigungen. Paulas Cousin Peter lebt mit seiner Frau ebenfalls auf dem Hof in Empel, und als Peters Frau ihn mit Alfred beim Akt erwischt, begeht Peter Selbstmord. Es wird als Unfall dargestellt und um der Familienehre willen hält Paula an der Ehe fest, doch sechs Jahre später wird Alfred wegen seiner Neigungen verhaftet und inhaftiert. Sie reicht daraufhin die Scheidung ein, unterhält jedoch bis zu seinem Tod ein heimliches freundschaftliches Verhältnis mit ihrem Exmann.
Katharina, von allen nur Katty genannt, ist die jüngste Tochter der Familie Franken und erst zwölf Jahre alt, als ihre Mutter nach intensiver Krankheitsgeschichte an Schwindsucht stirbt. Die Familie ist arm und nach dem Tod der Mutter kommt der Vater kaum noch finanziell zurecht, weshalb Katty zu Heinrich Hegmann und seiner Frau auf den Tellemannshof zieht. Sie geht bei den Frauen dort in die Lehre und kümmert sich um den ein Jahr alten Theodor, den sie sofort ins Herz schließt. Sie wird nach wenigen Monaten wieder nach Hause geschickt, doch 10 Jahre später holt Heinrich sie wieder auf den Hof, wo sie fortan bleibt. Sie ist dort Hauswirtschafterin, wird jedoch nicht als Angstellte behandelt sondern mehr und mehr gleichberechtigt. Es entwickelt sich erst eine Freundschaft, nach Jahren dann eine Liebe, die jedoch auf Grund des Standesunterschiedes nie ihre Erfüllung findet. Trotzdem unterstützt sie Heinrich vor allem bei seiner politischen Karriere und leistet im Hintergrund das, was wir heute als PR-Arbeit kennen.
Ein halbes Jahrhundert nach dem zweiten Weltkrieg sind die drei die letzten noch lebenden von 11 Geschwistern. Sie treffen sich auf dem Tellemannshof, um Gertruds 100. Geburtstag zu feiern. Während der Vorbereitungen und der eigentlichen Feier streiten sich die Schwestern immer wieder; Katty fühlt sich von Gertrud immernoch bevormundet und wirft ihr vor, sie könne ihr nichts recht machen. Gertrud versteht Kattys Loyalität zum lange verstorbenen Heinrich nicht, dem sie noch immer nicht verzeihen konnte. Dazwischen steht Paula, die sich immer wieder im Spagat zwischen den Schwestern versucht und um Harmonie bemüht ist. Zwischen Tränen und herzhaften Lachern finden sich rührenden Stunden, in denen sie sich immer wieder darauf besinnen, dass sie trotz allem Schwestern sind und füreinander durchs Feuer gehen würden.

Mit viel Humor und einer Prise sorgfältig gestreuter Anekdoten lässt Anne Gesthuysen die Leser am Leben ihrer Großtanten teilhaben. Dazwischen schafft sie es aber auch, ernste Themen anzusprechen und dem Buch Tiefgang zu verleihen.
Im Vordergrund stehen dabei die zwischenmenschlichen Beziehungen und die meist unerfüllte Liebe. Die Geschwister wurden für die damaligen Verhältnisse sehr liberal erzogen, ordnen sich jedoch stets den gesellschaftlichen Zwängen unter und stellen das Ansehen der Familie über ihre eigenen Bedürfnisse. Trotzdem schließen die drei Frauen Frieden mit ihrem Schicksal und finden einen Weg, sich selbst treu zu bleiben und sich zu verwirklichen.
In die Rahmenhandlung - die Geburtstagsfeier - sind immer wieder Rückblenden eingebaut, die vorrangig die Geschehnisse im ersten und zweiten Weltkrieg thematisieren und nach und nach ein ganzheitliches Bild ergeben. Der Leser lernt die Geschichte durch die Augen der der jeweiligen Schwester kennen und erfährt die Hintergründe über ihre zum Teil sehr festgefahrenen Meinungen. Der Autorin gelingt es, die Charaktere liebevoll und detailliert zu skizzieren, dabei jedoch wertfrei zu bleiben - sodass es dem Leser selbst überlassen ist, über ihre Handlungen und Ansichten zu urteilen.

Alles in Allem ist es ein sehr schönes Buch, das nicht nur unterhält, sondern auch kritische Fragen beim Leser aufruft und hervorragend über den gesellschaftlichen und politischen Zeitgeist aufklärt. Der Erzählstil ist flüssig und wechselt gekonnt zwischen heiteren und düsteren Themen und schafft so ein harmonisches Bild einer Familie, die in drei Jahrhunderten gelebt hat.
Auch das gelungene Cover stimmt den Leser perfekt für das Buch ein.