Schwierige Familienbeziehungen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
antie Avatar

Von


Der Roman „Wir sitzen im Dickicht und weinen“ erzählt von Frauen einer Familie über drei Generationen hinweg. Die Männer spielen eine untergeordnete Rolle, obgleich sie durch ihr Verhalten in der Familie deutliche Spuren hinterlassen
Im Vordergrund steht die Ich-Perspektive von Valerie, die mit 16-jährigem Sohn als alleinerziehende Mutter in Wien lebt. Sie ist eine fast schon karikaturreife Helikoptermutter mit unangenehm übergriffigem Verhalten dem Sohn gegenüber den sie nicht loslassen kann. Als Erklärung dafür wird deutlich, dass sie geschädigt durch das Verhalten ihrer eigenen Mutter ist, die zwischen laissez-faire-Erziehung in Valeries Kindheit und weinerlich-aggressiver Selbstbezogenheit schwankt. Die Mutter war selbst auch alleinerziehend. Sie hat Krebs. Das mögliche Ende der Mutter bringt Valerie dazu, sich an ihre Kindheit zu erinnern. Es wird deutlich, dass die Wurzeln ihres Verhaltens schon in der Großelterngeneration zu suchen sind.
Auch das Leben ihrer Großmutter und der Schwiegermutter sowie deren Mutter wird in Episoden geschildert. Immer wieder wird die die Unfähigkeit der Eltern- und Großelterngeneration zu echter, zugewandter Partnerschaft und darauffolgend Elternschaft deutlich, stattdessen präsentieren sich den Leser*innen dysfunktionale Familienstrukturen, die ihre Spuren hinterlassen. Die Figuren sitzen buchstäblich im titelgebenden Dickicht ihrer Familienbeziehungen, aus denen sie sich kaum befreien können. Die Ausnahme ist da vielleicht der Sohn von Valerie, der die Chance hat, ein Jahr in England zu verbringen und sich so von seiner Mutter zu lösen.
Es ist nicht ganz leicht, den Überblick zu behalten, wer wer ist und wer in welche Familie gehört, denn kapitelweise wechselt die Perspektive. Der Roman fügt sich so ein in die Reihe der Familienromane, die mehrere Generationen in den Blick nehmen und versuchen, Linien zu ziehen von früher bis in die Gegenwart, dabei aber multiperspektivisch arbeiten anstatt chronologisch zu erzählen.
Ein Kunstgriff sind die Grabreden, die Valerie von Kindheit an immer mal wieder über ihren Vater schreibt, der nicht für sie da ist und sich auch nicht um sie kümmert. Sie gehen besonders unter die Haut, weil sehr subtil die Sehnsucht nach Gemeinsamkeit und Zuwendung zu spüren ist, genauso wie die Wut und Frustration über die mangelnde Anwesenheit.
Der Roman ist sensibel geschrieben, die Ambivalenzen und Brüche in den Persönlichkeiten sind genau beobachtet und einfühlsam in Worte gefasst. Zu wenig nachvollziehbar bleibt allerdings die Wandlung der Mutter Christina von der Vorzeigetochter zur schwierigen Mutter.
Der in zarten Pastellfarben gehaltene Schutzumschlag suggeriert einen heiter-fröhlichen Inhalt, der darüber hinwegtäuscht, dass hier von den Entbehrungen, Zumutungen und Verletzungen erzählt wird, die in einer Familie auftreten können.