Großartiges Kammerspiel

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Nach einer Trennung zieht Zahnärztin Constanze in eine WG in Hamburg. Zu Rentner Jörg, der der Eigentümer der Wohnung ist und gerade eine Reise im Bulli nach Georgien plant. Zu Schauspielerin Anke, die pleite ist und sehnsüchtig auf ein Engagement wartet. Und zu Murat, der ein Durch-und-Durch-Fußballer ist, ein Schrebergärtner und Hobbykoch.
Trotz unterschiedlicher Vorstellungen vom Leben, trotz jeweils eigener Päckchen gehen die Vier schließlich einen gemeinsamen Weg:
Constanze, Anke und Murat begleiten Jörg, der immer mehr vergisst.

Ich dachte beim Lesen des Titels gleich an Goethes Roman „Wahlverwandtschaften“, aber da werde ich natürlich nicht die Einzige gewesen sein, den kennt man ja, den Goethe, ist ja kanonisch sein Werk, ach was, der ganze Autor. Jedenfalls wird auch im Roman von Isabel Bogdan ein bestehendes Beziehungsgefüge ganz schön durcheinandergewirbelt und das nicht nur wegen Constanzes Einzug. Auch und vor allem die fortschreitende Demenz von Jörg stellt die Wohnverwandtschaft auf die Probe, aber die meistern das; aus Skepsis wird Zuneigung, aus Nicht-wahrhaben-wollen Akzeptanz. Die Vier wachsen innerhalb von zwei Jahren zusammen, verstehen sich, unterstützen einander so gut es geht und finden in der Endlichkeit ihre größte Antagonistin.

Viele Themen bringt die Autorin unter:
Alters- und Geschlechterdiskriminierung, alt werden, krank sein, Freundschaft, Familie, wobei sich das Kranksein, die Demenz, wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Aber es geht auch um Traditionen, zum Beispiel um Kartoffelsalat mit Majo und Fleischwurst trotz Bockwürstchen an Weihnachten. Ja, der Roman hat große Themen UND ist humorvoll.

Auf die Perspektive war ich gespannt, den Inneren-Monolog-Roman „Laufen“ mochte ich sehr.
Innere Monologe gibt es auch in diesem Roman. Die vier Ich-Erzählperspektiven machen alle Figuren zu Protagonist*innen und die intimsten Momente im Roman sind für mich diejenigen, in denen die Figuren sich mit der Frage beschäftigen, wie sich eine Demenz anfühlt(Jorg), bzw. anfühlen konnte (Anke, Murat, Constanze). Das hab ich geliebt! Und dieses Wir an Silvester. Und das Klavier, mit dem die Enden anfangen.
Und auch das Formale, also zum Beispiel, dass es Tage gibt, die sich lesen wie ein Drama.
Irgendwie ist das ja auch ein Drama: das Leben, diese Endlichkeit.
„Jörg (sucht irgendwas): Wo hab ich nur meinen Kopf?
Constanze: In der Klinik gelassen?
Jörg: Die haben gesagt, das wird wieder besser.
Constanze: Kann man hoffen."
Danke für das Rezensionsexemplar.