Zerrissen zwischen Tradition und Moderne

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Der erste Satz: „Als Amar sah, wie sich die Halle mit Gästen füllte, die zur Hochzeit seiner Schwester eintrafen, nahm er sich vor zu bleiben.“, katapultiert den Leser mitten hinein ins Geschehen. Es ist der große Tag von Hadia und Tarik. Amar, Hadias Bruder, war lange unterwegs und nur auf die ausdrückliche Einladung seiner Schwester hin erschienen. Sehr schnell spürt man, dass ein ungelöster Familienkonflikt im Raum steht, an dem primär Amar und sein Vater Rafik beteiligt sind.

Die Familie lebt in den USA, hat aber Indische/pakistanische Wurzeln und ist muslimischen Glaubens. Die Ehe der Eltern Laila und Rafik wurde damals noch arrangiert, es ist selbstverständlich, dass die Frau sich den Wünschen ihres Mannes beugt. Beide Eheleute sind sehr gläubig und leben ein traditionelles Familienbild. Sie bekommen drei Kinder: Hadia, fleißig und ehrgeizig, Huda, von der man nicht sehr viel erfährt, und Amar, der ersehnte Sohn, der jedoch gegen den Vater aufbegehrt und den Erwartungen der strengen, religiösen Eltern nicht immer entsprechen will, was wiederholt zu Auseinandersetzungen führt.

Alle Kinder leiden unter der Enge ihres Elternhauses. Sie dürfen nur sehr eingeschränkt Freundschaften pflegen, nicht zu Partys gehen. Auch werden Kontakte zum anderen Geschlecht nicht toleriert, selbst auf Festen und in der Moschee werden Frauen von Männern getrennt. 
„Baba meint: „So etwas wie Freunde gibt es nicht, es gibt nur Familie, und nur die Familie lässt euch nie im Stich.““ (…)
„Babas Worte wecken in ihr (Hadia) die Vorstellung von einem Haus als einer Festung, die sie nur verlassen können, um in die Schule oder die Moschee zu gehen oder zu einer befreundeten Familie, die ihre Sprache spricht, und in dieser Festung können sie und ihre Geschwister von Glück sagen, dass sie sich wenigstens gegenseitig haben.“ (S. 90/91)

Hadia versucht durch besonderen Ehrgeiz dieser Enge zu entkommen und glänzt durch gute Leistungen, die ihr am Ende ein Medizinstudium ermöglichen. Dennoch leidet sie in ihrer Jugend darunter, dass sie keine Anerkennung bekommt und ihr Bruder als Sohn vorgezogen wird: „Amar ist ihr Sohn. Schon das Wort Sohn klingt leuchtend wie Gold, wie die wirkliche Sonne, die ihre Tage beherrscht.“ (S. 205). Hadia liebt ihren Bruder, war für ihn schon verantwortlich, als er noch ein Junge war. In Bezug auf ihre Eltern hat sie ihm gegenüber jedoch ambivalente Gefühle, neidet ihm seinen Status und fühlt sich oft zurückgesetzt. Eifersucht sowie Konkurrenz um Liebe und Anerkennung durchziehen die komplette Familie.

Amar stellt die Werte und Überzeugungen seiner Eltern in Frage. Je älter er wird, umso heftiger und rigoroser fallen die Reaktionen des autoritären Vaters aus. Amar ist sensibel, er hat großes Vertrauen zu Hadia. Es gibt einige Zerwürfnisse, die zunächst den Jungen und später den Mann prägen. Er wendet sich von der Familie ab, verliebt sich in Amira, findet aber keinen dauerhaften Halt. Amar ist die tragische Figur des Romans. Seine Entwicklung habe ich teilweise als etwas zu krass empfunden.

Das Buch ist in vier Teile gegliedert. Der erste und dritte Teil berichten von Hadias Hochzeit. Im zweiten Teil erfahren wir von vielen Ereignissen und Alltäglichkeiten, die sich in der Vergangenheit der Familie abgespielt haben. Diesen Wechsel der Perspektiven und Zeiten empfand ich als sehr spannend, weil die Episoden sich wie Puzzlesteine zu einem großen Ganzen zusammensetzen und man letzten Endes nachvollziehen kann, warum Amar fortgegangen ist. Man kombiniert als Leser permanent und lernt die Protagonisten in ihrer Vielschichtigkeit kennen. Die nicht chronologischen Sprünge führen aber auch dazu, dass kein leichter Lesefluss zustande kommt und man gefordert ist. Im vierten und letzten Teil bekommt Vater Rafik das Wort, womit sich die letzten Lücken schließen.

Mir gefällt der Schreibstil des Buches: er ist nicht verschnörkelt und in angenehm ruhigen Sätzen geschrieben. Die Gedanken und Handlungen der Protagonisten zeigen die Schwierigkeiten auf, die durch die Diskrepanz zwischen Tradition und Moderne für junge eingewanderte Muslime bestehen. Der eine kommt damit besser zurecht als der andere. 
Mitunter schreibt die Autorin wunderschöne Sätze, die viel Tiefe haben: „ Weißt du – darum geht es doch -, kein Mensch ist nur gut. Jeder versucht, gut zu sein. Und jeder hat manchmal das Gefühl, dass er nicht gut ist und sogar bei dem Versuch scheitert, gut zu sein.“ (S. 352). In diesem Sinne haben alle Figuren auch Graubereiche, die sie sehr menschlich machen.

Mit Sicherheit können Leser, die mit den muslimischen Traditionen besser vertraut sind, noch mehr aus dem Roman ziehen. Ich hätte mir bei den vielen unbekannten Begriffen ein Glossar gewünscht.
Das Buch ist wunderschön gestaltet. Ich würde es allen empfehlen, die Interesse an komplexen Familiengeschichten und fremden Kulturen haben. Der Roman, der die innere Zerrissenheit junger Migranten widerspiegelt, ist zutiefst menschlich und hochaktuell.