Wie das Leben in seiner Mitte so spielt...

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mike nelson Avatar

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Wie das Leben in seiner Mitte so spielt... "Und ich, wie ich hier mit meinem Beutel sitze, in meinen Sandalen, bald achtunddreißig Jahre alt, Lehrling am ersten Tag. Ich, ein Stumpf ohne Wurzeln und Blätter, aber wenn der Wind in mich fährt, gibt es Widerstand, vielleicht sogar einen kleinen Gesang." So die Gedanken der Ich-Erzählerin gegen Ende des Buches. Ein Satz in dem sich die ganze in Birgit Birnbachers Roman "Wovon wir leben" geschilderte Geschichte widerzuspiegeln scheint. Julia ist Krankenschwester und begeht einen Fehler, der zu ihrer Kündigung führt; der notwendige Auszug aus dem 'Schwesternheim' führt sie zurück in ihr Elternhaus; dort angekommen, muss sie nicht nur feststellen, dass die Mutter das 'Vatergefängnis' und die provinzielle Enge in Richtung Italien verlassen hat, sondern auch wieder eintauchen in eine beklemmende dörfliche Enge, in der Frauen nur Nebenrollen spielen und Männer sich allabendlich in der Dorfkneipe versammeln. Julia denkt zurück an die Eltern: "... denn immer wenn die Eltern einander am Tisch gegenüber saßen, war es, als würden zwischen den Gläsern und den Tellern mit dem Besteck auch die ruhenden Waffen liegen, die den beiden mit den Jahren zu schwer geworden waren, um sie dauernd aufeinander zu richten." Der Vater braucht eigentlich Hilfe, verweigert sie aber; und da ist noch der wegen einer zu spät erkannten Hirnhautentzündung in einem Heim untergebrachte, behinderte Bruder; zudem eine Ziege, die unentweg schreit - weil alles auch irgendwie 'zum Schreien' ist; und da ist noch Oskar, der Städter, wegen eines Herzinfarktes vorübergehend in der nahegelegenen Rehaklinik, in den sich Julia verlieben könnte. Julia wohnt vorübergehend in der elterlichen Einliegerwohnung und erkennt, dass sie sich - nachdem sie als Krankenschwester immer nur für andere da war - nun endlich einmal um sich selbst kümmern müsste; und da ist eine Joboption, die sie wieder zurückführen könnte in den 'normalen Ablauf' der Dinge. Der Roman lebt nicht so sehr von der Handlung - es passiert, was halt so passieren kann; der Roman lebt von seiner düster-bedrückenden Atmosphäre; und dass am Ende die ersehnte Lösung ausbleibt, ist nahezu zwangsläufig: Julia fügt sich; ihre Lebensphase des Übergangs mündet nicht in einen Neubeginn sondern in die Unterstützung der inzwischen zurückgekehrten Mutter bei der Pflege des Vaters. Am Ende bringt sie die Freundin Bea mit dem Auto zurück bis vors Elternhaus: "... verabschiede mich und steige aus. Als ich die Autotür zuschlage, zupft Mutter den Store zurecht und zieht die Vorhänge zu." Irgendwie ist man froh, das Buch zuklappen zu dürfen und sich wieder an seinem eigenen Leben freuen zu können - und irgendwie ist es aber auch eine über knapp 200 Seiten andauernde Leseerfahrung, die man nicht missen möchte.