Von Gewalt erfüllte Räume

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tausendmund Avatar

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Ich weine schnell, außer beim Lesen. Nicht weil mich Texte weniger emotionalisieren (uff, ganz im Gegenteil), sondern weil die Berührung eine andere ist. Bei dir weinte ich das erste Mal nach 100 Seiten. Und die letzten 50 waren ein komplettes Tränenmeer. Ich glaube nicht, dass ich jemals über dich hinwegkommen werde.

Als äußerlich wie innerlich zarter und sanftmütiger Mensch stellt der 15jährige Mungo eine Absonderlichkeit im Glasgower East End der frühen 90er Jahre dar. In dieser hypermaskulinen Welt wird er nicht nur quasi als Inbegriff des Nicht-Mannes markiert, sondern ist den Leuten wie eine Delle in der Straße: ein Minus, das nicht verborgen bleibt, weil mensch darüber stolpert. Nur mit James ist es anders – bei ihm findet Mungo Geborgenheit, Akzeptanz und die erste zarte Liebe. Doch wie kann ein (inneres und äußeres) Comingout gelingen, wenn die Welt, in der wir leben, weder Vorbilder noch Sprache dafür kennt?

„Eine Welle konnte der nächsten immer nur vorausgehen; erklären, wo es langging, konnte sie ihr nicht.“ (S. 78)

Du erzählst von einem Lebensraum, der von Gewalt geprägt, von ihr vollkommen durchdrungen ist. Da ist die ganz offen praktizierte, rohe Gewalt seines großen Bruders Hamish, der seinen Weg in religiös motivierten Bandenkriegen sucht. Da ist auch Spott und Vernachlässigung seitens Mungos alkoholkranker Mutter Maureen. Aufgrund der prekären Lebenssituation ist es Mungo nicht möglich, von einer Flucht auch nur zu träumen. Er muss in Glasgow bleiben; an diesem Ort, der ihn Weichei, Idiot, Feigling, Heuchler, Lügner schimpft.

So viel Auswegslosigkeit und Bedrängnis, so viele Formen psychischer und physischer Gewalt auf wenigen Seiten – und doch flechtest du sie bewusst ein, gibst uns einen Schimmer Hoffnung und entreißt sie sogleich wieder. Zeichnest ein ganzes Milieu und das Porträt eines queeren Jungen, wie er auf Straßen wandelt, die nirgends enden als immer wieder nur am Anfang. Ich bin immer ganz nah neben ihm gegangen. Wie ich wünschte, ich hätte seine Hand halten können.