Zwischen Hoffen und Bangen

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„Mungo lag hinter ihr. Er musste dafür sorgen, dass sie bei ihm blieb. Mit leiser Stimme begann er Liebeslieder zu singen, nicht sicher, wie der Text ging, aber sicher, was er dabei fühlte.“

Seit Douglas Stuart mit seinem Debüt „Shuggie Bain“ in 2020 den Booker Prize gewann, hat sein Publikum ungeduldig auf einen Nachfolgeroman gewartet. Auch ich gehöre seither zu den begeisterten Stimmen und zähle „Shuggie“ nach wie vor zu meinen Lesehighlights. Entsprechend groß war meine Erwartung an „Young Mungo“, Stuarts neuen Roman, der nun endlich auch auf Deutsch erschienen ist und der – auf den ersten Blick! – thematisch wie emotional in dieselbe Kerbe wie sein Vorgänger schlägt:

Wieder spielt die Geschichte in den heruntergekommenen Straßen von Glasgow, diesmal in den 1990er Jahren. Mungo Hamilton ist 15 Jahre alt und das jüngste von drei protestantischen Geschwistern. Seine Mutter, die er nur Mo-Maw nennen darf, ist Alkoholikerin und nur selten in der kleinen Wohnung anzutreffen. Regelmäßig entflieht die noch junge Frau ihrer Verantwortung, gibt sich dem Rausch und fremden Männern hin, seit der Vater ihrer Kinder im Straßenkrieg gegen die Katholiken getötet worden ist. Die Mutterrolle füllt nun die nur ein Jahr ältere Jodie aus. Sie kümmert sich um den Haushalt, geht neben der Schule noch arbeiten, um etwas Geld für Essen zu verdienen und kümmert sich so gut sie eben kann um ihren jüngeren Bruder. Den älteren hingegen hat sie bereits abgeschrieben. Hamish ist ein gefürchteter Bandenführer, der seine Zeit damit verbringt, Kämpfe gegen die verhassten Katholiken zu organisieren – wie schon sein Vater. Männlichkeit bedeutet für ihn Härte und seinen Bruder abzuhärten ist daher sein Beitrag zur „Erziehung“. Der sanfte und verträumte Mungo scheint verloren, vorverurteilt von seinem Milieu, hineingeboren in Schicksal, dem er nicht entkommen kann. Dann lernt er James kennen und die Zeit, die sie miteinander verbringen, ist ein Ozean der Ruhe inmitten der stürmischen See von Mungos Alltag. Doch ihre Beziehung ist eine Provokation im unerbittlichen East End und bringt die beiden Jungs in Gefahr.

Die Haupthandlung um die beiden Teenager erweitert Stuart um die Schilderung eines Angelausflugs, auf den Mungo mit zwei älteren Männern geschickt wird, die er vorher nicht kannte. Mit jeder Seite verdunkelt sich eine Vorahnung, schnürt sich die eigene Kehle zu, wird das Herz schwerer. Beinahe vorhersehbar erscheint das Geschehen, aber Stuart versteht es Überraschungen bereit zu halten und Lesenden den Atem zu rauben. Stilistisch ist das große Kunst, sind seine Worte kraftvoll, erschütternd, aber auch unglaublich schön. Und anders als bei „Shuggie“ blitzt hier immer wieder auch eine Hoffnung durch, die mich in all dem Grauen der Geschehnisse hat durchhalten lassen, während ich mich durch beide Zeitebenen navigiert habe. Eine absolute Struktur, die sich unumwunden zum Nullpunkt hinbewegt und in einem niederschmetternden Schlusskapitel kulminiert. Nach Beenden des Buches musste ich erst einmal tief durchatmen und war doch auch traurig, dass es nun vorbei ist.

Stuarts beide Romane haben sicher viele Überschneidungen, aber anders als von vielen kritisiert, handelt es sich für mich nicht um das gleiche Buch. Vielmehr hatte ich beim Lesen das Gefühl, dass Mungo und Shuggie in derselben Nachbarschaft leben, getrennt nur durch die verschiedenen Zeiteben, auf denen ihre Geschichten spielen. Beide sind jedenfalls Charaktere, die mir sicher noch lange und lebhaft in Erinnerung bleiben werden. Jetzt aber bleibt mir nur noch das erneute Warten bis Douglas Stuart seinen nächsten Roman ankündigt – und ich freue mich jetzt schon riesig darauf!

Aus dem Englischen erneut grandios übersetzt von Sophie Zeitz, die es schafft sogar Dialekt sinnstiftend zu übertragen. Chapeau!