Real-Life-Reset

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dany_87 Avatar

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In „Zeiten der Langeweile“ begleiten wir die dreißig Jahre alte Mila, die in Berlin lebt, studiert hat und eine Dissertation über „Heldinnenreisen in der Populärkultur“ geschrieben hat. Im Corona-Winter 2021 meldet sich Mila von allen sozialen Netzwerken, Datingplattformen etc. ab. Zunächst eine Art Selbstversuch (Digital Detox) mit dem Ziel gemäßigter die Zeit im Internet zu nutzen. Die gewonnene Zeit nutzt sie für neue Routinen (morgendliches Yoga, Zeitungen lesen, Spazierengehen).

Doch dabei bleibt es nicht - nach und nach löscht Mila alle Spuren von sich im WorldWideWeb. Und was als Selbstversuch begann, endet in einer manischen Angststörung auf irgendeine Art im Internet stattzufinden. So meidet Mila immer mehr Alltagssituationen, hört auf, auf Veranstaltungen zu gehen, Freunde zu treffen, will sich nicht mehr fotografieren lassen. Und auch in ihrem Alltag breitet sich ihr „Real-Life-Reset“ (S. 10) aus. Sie meldet sich von allen Streamingdiensten ab, tauscht ihr Smartphone gegen ein nicht internetfähiges Modell, meidet Aktivitäten, bei denen man sich online registrieren muss, verlässt kaum noch das Haus. Durch ihre fehlende Sichtbarkeit im Netz, aber auch mangelnde Erreichbarkeit, verliert sie nicht nur den Anschluss zu Freunden, sondern auch zu aktuellen Themen („An dem Abend merkte ich, dass sich etwas Grundsätzliches verändert hatte. Ich ertappte mich dabei, wie ich über Dinge lachte, von denen ich noch nie gehört hatte.“ - Seite 171). In Milas Leben breitet sich so eine immer größer werdende Leere und Langeweile aus.

„Zeiten der Langeweile“ ist der Debüt-Roman der Berlinerin Jenifer Becker. Erschienen bei Hanser Berlin. Der Roman umfasst 238 Seiten - unterteilt in drei Akte - und ist sehr zeitgenössisch, da er in dem Zeitraum des Corona-Winters 2021 beginnt und wir Mila etwa ein Jahr lang begleiten. Politisch aktuelle Themen werden dabei stetig in die Geschichte eingewoben.

Das Cover zeigt das Gemälde einer jungen Frau, die die Augen niederschlägt. Ich finde es sehr treffend gewählt, gerade weil es keine Fotografie ist und die Frau den direkten Blickkontakt meidet. Außerdem spiegelt die Frau auf dem Bild Milas Stimmung und Distanz Fremden gegenüber gut wieder.

Mir hat gefallen, dass der Roman aus der Ich-Perspektive geschrieben ist und man dadurch einen sehr guten Einblick in das Innenleben der Protagonistin bekommt. Außerdem erhält Milas Handeln dadurch keine Wertung und man kann sich als Leser seine eigenen Urteile und Gedanken bilden.
Die Handlung war nachvollziehbar und die Charaktere schlüssig. Ich mochte auch die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Bezüge, wobei ich hervorheben möchte, dass es kein „Corona-Roman“ ist. Der Schreibstil war flüssig und das Buch gut lesbar.
Spannend fand ich auch den fortlaufenden Bezug zur Dissertation Milas. Die Protagonistin ist selbst wie eine Frau auf Selbstfindungsreise (S. 12), die eine grundlegende Wandlung in ihrem Leben vollführt.
Doch am Ende ist das Leben eben kein Roman. Mila bleibt ratlos zurück. Sie fragt sich selbst öfters, wo sie mit ihrem Ausstieg aus der digitalen Welt hin möchte, sehnt sich manchmal nach der Vorausstiegszeit und ihren Freundschaften zurück und wird doch immer radikaler. Sie hat weder beruflich, noch privat eine Idee, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte und am Ende bleibt offen, ob es ihr gelingen wird „ihre stilisierte Existenzkrise zu überwinden (S. 237).

Insgesamt ein gelungener Debütroman, der jedoch ab und an seine Längen hatte und mich nicht so richtig packen konnte. Das Thema ist aber sehr spannend und brandaktuell.