Bavaria in Suffolk

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bavaria123 Avatar

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Isolte, Issy genannt, arbeitet in der Londoner Modebranche und ist mit dem Fotografen Ben zusammen. Ihre Zwillingsschwester Viola vegetiert magersüchtig in einem Krankenhaus dahin.
Als junge Mädchen unzertrennlich, immer im Schlepptau von den Zwillingsbrüdern Michael und John, lebten sie in einem Wald in Suffolk zusammen mit ihrer Mutter. Bis ein bedeutendes Unglück geschah, welches letztlich die Mutter in den Selbstmord trieb, die jugendliche Clique sprengte und die Mädchen einander entfremdete.


Der erste Blick auf ein neues Buch ist für mich immer etwas Besonderes. Es wird bestaunt, es wird daran gerochen und es wird eingehend näher betrachtet. Bei diesem Buch gefiel mir mal wieder das Cover. Die beiden Mädchen mit den ungekämmten blonden Haaren sind sehr treffend gewählt, am besten gefällt mir dann aber doch das "Zertrennlich", welches wie eingeritzt aussieht.. Mit diesem Cover wird direkt auf den Inhalt hingewiesen. Gelungen!

Der Einstieg in die Geschichte ist sehr lebhaft. Durch Fragen oder Sätze an den Leser wird dieser schnell in das Geschehen einbezogen. Der Schreibstil ist teilweise lebendig und bildhaft, dann aber auch wieder ruhig und eindringlich. Die Autorin schafft es eine dichte Atmosphäre zu schaffen.
Erzählt wird letztendlich in vier unterschiedlichen Ebenen. Zum einen befindet der Leser sich in der Gegenwart, die 1987 spielt. Dann taucht man ein in die Vergangenheit, die vorwiegend das Jahr 1972 behandelt. Aber das ist noch nicht die letzte Perspektive. Denn es wird teilweise aus der Sicht von Viola, der einen Zwillingsschwester, und dann über Isolte, die zweite Zwillingsschwester geschrieben. Das hört sich erst einmal kompliziert an, ist es ganz am Anfang des Buches auch, aber dann gewinnt dieses Stilmittel immer mehr an Gelungenheit. So sind die 44 Kapitel sehr gut und flüssig zu lesen.

Die Protagonistinnen sind, obwohl Zwillinge, sehr unterschiedlich. Isolte ist eine Moderedakteurin. Im Grunde eine erfolgreiche, aber ob das der Hauptaspekt ihres Daseins darstellt, ist eine Frage wert. Sie gibt sich nach außen hart und cool, aber in ihr schlummert ein sehr weicher Kern, der spätestens in ihren Träumen zum Vorschein kommt.
Ihre Schwester Viola liegt in einem Krankenzimmer. Ihre Magersucht ist noch lange nicht überstanden. Sie wirkt verletzlich, gekränkt und krank. Sie hat Sehnsucht nach dem Leben und doch Angst davor.
Wenn ich die beiden so vergleiche, ist mir Viola ein wenig mehr ans Herz gewachsen. Das liegt nicht nur daran, dass ihre Kapitel in „Ich-Form“ verfasst sind. Sie ist so emotional und leidenschaftlich. Zudem war auch ich eine lange Zeit in meinem Leben magersüchtig. Und wie bei mir ist auch bei Viola die Psyche und nicht vordergründig das „Sich zu dick fühlen“ das Problem. Sie fühlt sich nicht wohl in ihrer Welt und damit auch nicht wohl in ihrem Körper.

Das Buch behandelt auch weitere gesellschaftliche Probleme. Da ist die Alkoholsucht. Die Mutter Rose trinkt, vernachlässigt den Haushalt, die Kinder und sich selbst. Die Kinder flüchten lieber in den Wald, wo sie auf ihre Freunde John und Michael treffen. Diese beiden sind Naturburschen, wenn man es im netten Sinne bezeichnen mag. Wenn man genau hinter die Fassade schaut, sind sie die Kinder eines sozial schwachen Paares und Opfer von Gewalt. Alle vier Kinder werden immer wieder von der Umwelt auf ihre Herkunft reduziert. Ganz nach dem Motto: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.
Die Mädchen müssen zudem Veränderungen in der häuslichen Struktur verkraften. Das ist heutzutage keine Seltenheit mehr, war aber in den 70er Jahren eher unüblich.

Zudem zeigt die Geschichte, wie sehr ein einziges Ereignis das Leben komplett verändern kann. Mit einem Überblick über die diversen Reaktionsmöglichkeiten von verschiedenen involvierten Personen wird der Leser in den Bann gezogen.

Ich würde das Buch nicht unbedingt als Thriller einstufen - in Thrillern muss sich der Held oder die Heldin meist gegen moralische, seelische oder physische Gewalteinwirkung durch seinen Gegenspieler behaupten. Für mich ist es eher ein soziales Drama - der Versuch, auf bestimmte gesellschaftliche Missstände hinzuweisen und damit Spannung zu erzeugen.

Wie auch immer, ich habe dieses Buch sehr interessiert gelesen. Den Schreibstil mit den Zeiten- und Perspektivenwechsel finde ich äußerst gelungen. Die Geschichte ist durchaus glaubwürdig, wenn man auch immer sehen muss, dass sie zwischen 1972 und 1987 spielt, in Jahren wo es manche heutige Errungenschaften noch nicht gegeben hat.

Das Ende ist relativ offen, was mir nicht ganz so gefällt. Aber vielleicht passt es trotzdem oder gerade deshalb zu diesem Buch. Ich gebe vier Sterne und eine Leseempfehlung.