beeindruckender Roman mit einigen Schwächen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
theseasideexpress Avatar

Von

200 Jahre, drei Erzählungen und die Suche nach dem Paradies – all das verbunden durch ein Haus am Washington Square in New York.
1893 lebt hier ein wohlhabender Mann in einem alternativen Amerika, in dem scheinbar alle lieben und leben können, wie sie wollen. 1993 ist es das Zuhause eines jungen Hawaiianers mit einer ganz besonderen Familiengeschichte. 2093 spielt es eine zentrale Rolle im Leben einer jungen Frau, die sich in einer von Pandemien und Klimakrisen geprägten totalitären Welt zurechtfinden muss.

Yanagihara erschafft eine Version der Vergangenheit, die es nie gegeben hat, diskutiert gegenwärtige Fragen und beschreibt eine Zukunft, die uns erwarten könnte. Am Ende ist dabei ein Buch entstanden, dessen drei Teile man eigentlich drei unterschiedlichen Genres zuordnen muss. Verbunden werden die Erzählungen nicht nur durch das Haus am Washington Square, sondern auch durch die immer gleichen Namen, die in jedem Teil andere einschlägige Charaktere bezeichnen, und die wiederkehrenden Themen: Auf die eine oder andere Art geht es immer wieder um Liebe, Identität und Freiheit – und letztlich die Frage, in was für einer Welt wir leben möchten.

Yanagihara selbst beschreibt ihre Idee hinter dem Roman in einem Interview mit NPR: „[I was] think[ing] about this idea of paradise and wondering if the mythology of America as a paradise had been wrong all along.“

Die Idee? Großartig! Die drei Erzählungen selbst habe ich (bis auf einen kleinen Hänger in Teil 2) sehr gern gelesen, die Charaktere sind zwar nicht alle sympathisch, wirken aber absolut authentisch. Und auch die Bandbreite an Themen, die Yanagihara hier teils mehr, teils weniger intensiver diskutiert, hat mich beeindruckt und immer wieder zum Nachdenken gebracht: Es geht um gleichgeschlechtliche Ehe, wirtschaftliche Benachteiligung, lebensverändernde Krankheiten und, und, und. Dabei ist nur wenig schwarz oder weiß, das meiste eher grau, Vieles wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet – und das macht es besonders interessant.

Aber: Leider haben viele dieser Diskussionen um Richtig und Falsch für mich zwischen den knapp 900 Seiten an Gewicht verloren. Klar, das Leben ist komplex, es gibt unendlich viele Fragen, und einen so großen Teil davon in einem Roman abzubilden, ist sicher eine Herausforderung. Trotzdem sind insbesondere die ersten beiden Teile für mich vor dem massiven dritten Teil fast ein wenig untergegangen. Vielleicht liegt es daran, dass Teil drei so nah an unserer heutigen Welt ist, die Ängste einiger Menschen abbildet und dass viele der Fragen, die dort diskutiert werden, auch heute eine große Rolle für uns spielen; vielleicht auch einfach nur daran, dass Teil drei nun mal am Ende steht und fast die Hälfte des gesamten Buches einnimmt – ich weiß es nicht. In jedem Fall hätte ich mir gut vorstellen können, die Teile als drei Bücher einer Trilogie zu lesen. So hätten die einzelnen Erzählungen mehr Raum gehabt, die Welt in Teil eins hätte noch besser ausgebaut, die Themen in Teil zwei näher diskutiert werden können.

Was bleibt, ist ein beeindruckender Roman mit ein paar Schwächen, der uns erinnern soll, was uns Menschen eigentlich zu Menschen macht:
„No matter how bleak a society is or how totalitarian a regime is or a person's circumstances, one of the things that we all want as humans is affection and love and to find some beauty in our lives.“