Das Buch braucht Zeit.

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mike nelson Avatar

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In Yanagiharas neuem Roman bekommen die Leser Einblick in drei Geschichten in völlig unterschiedlichen Welten. Eines haben alle drei gemeinsam: ein Stadthaus am Washington Square.
1893 versucht ein junger Mann inmitten seiner familiären Erwartungen und Regeln seinen eigenen Weg zu finden und auf dem Weg ins eigene Glück auszubrechen.
1993 lebt ein junger Hawaiianer mit einem älteren wohlhabenden Mann zusammen als ein Brief seines verstorben geglaubten Vaters seine Welt erschüttert und die tiefsten Geheimnisse seiner Vergangenheit aufrollt.
2093: Eine junge Frau, die in einem Amerika lebt, welches streng reglementiert und von unzähligen Pandemien und dem Klimawandel gezeichnet wurde. Das Internet ist verboten und jeder, der den Staat kritisiert wird unter Hochverrat zum Tode verurteilt.
Die durchgehend mitschwingende Frage: Schaffen die drei Protagonisten es ins Paradies?

Nach dem letzten großen Erfolg mit „Ein wenig Leben“, kann Hanna Yanagihara diese Erwartungen nicht noch einmal erfüllen. Die Autorin überzeugt mit ihrem fantastischen und durchdachten Schreibstil, schafft es jedoch nicht, den Leser in den gleichen Bann zu ziehen. Die Figuren sind nicht so nahbar, es fällt schwer mit ihnen zu fühlen, zu trauern und ihre Entscheidungen nachzuvollziehen. Vor allem die ersten beiden Geschichten haben viele Längen, viele Wiederholungen. Es kann sich keine Sympathie für die Figuren entwickeln
und fehlt es auch an Spannung.
Im dritten Teil fiebert der Leser (etwas widerwillig) mit, während er eine Dystopie kennenlernt, welche die Angst vor dem schürt, was noch auf die Menschheit zukommen könnte - vor allem mit der aktuellen Corona Pandemie als realistischem Beispiel.
Immer wieder kommen Fragen auf, wieso die Figuren der drei Geschichten die gleichen Namen tragen und inwieweit ein Zusammenhang zwischen den Geschichten hergestellt werden kann. Der große Zusammenhang bleibt jedoch offen.
Yanagihara schafft es dennoch, dass dieses dicke Buch nicht vor der letzten Seite weggelegt wird. Nicht zuletzt wegen des dritten Teils, der dann doch durch eine ganz besondere Spannung überzeugen kann.
Am Ende stellt sich eine Erleichterung ein, das Buch geschafft zu haben und sich wieder auf die Gegenwart besinnen zu können, mit der Hoffnung, dass es nur eine Dystopie bleibt und keine wirkliche Aussicht auf die Zukunft im Jahr 2093, einer vom Menschen zerstörten Welt.
Das Buch braucht Zeit.