Das Haus am Washington Square

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petris Avatar

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Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“ gehört mit zu jenen Romanen, die mich am meisten überhaupt beeindruckt haben. Eine unglaubliche Geschichte, sehr dicht, sehr facettenreich erzählt, heftig, traurig, berührend und sprachlich einfach unfassbar gut.
Dass es gleich Anfang des Jahres ein neues Buch aus ihrer Feder geben würde, hat mich gefreut, es landete sofort auf meiner Leseliste. Was ich allerdings nicht beachtet hatte, war der Umfang des Romans! Fast 900 Seiten! Ich erschrak. Und legte es erstmal zur Seite, um ein paar kürzere Bücher einzuschieben. Doch irgendwann war klar, es muss sein, schließlich hatte ich das Rezensionsexemplar ja gewonnen und musste es zeitnah besprechen.
Schon den ersten Teil fand ich sehr spannend, wunderbar erzählt, sprachlich ein Traum. Ein wenig seltsam fand ich das Setting in einer fiktiven Vergangenheit (Ende 19. Jhdt.) im fiktiven Freistaat New York, in dem die gleichgeschlechtliche Ehe nicht nur erlaubt, sondern völlig normal ist und ebenso wie Ehen zwischen Mann und Frau von Heiratsvermittlern angebahnt wird. Ich gewöhnte mich aber schnell daran. Es ist Fiktion, auch in zahlreichen Fantasy-Romanen begegnen wir solchen Elementen. In diesem Teil folgt ein junger Mann aus sehr reicher Familie seinem Herzen, auch auf die Gefahr hin, betrogen zu werden und mit dem Wissen, enterbt zu werden. Das Stadthaus seiner Familie am Washington Square zieht sich wie ein roter Faden durch den restlichen Roman.
Der zweite Teil spielt 1993 auf dem Höhepunkt der AIDS-Krise. Ein junger Hawaiianer lebt mit einem reichen, wesentlich älteren Mann in genau jenem Haus am Washington Square. Sie mussten schon viele Freunde begraben, andere sind gezeichnet von der Krankheit. Und der junge David trägt ein Geheimnis mit sich herum. Sein Vater ist nicht gestorben, wie er es seinem Freund erzählt hat.
Der dritte, und für mich spannendste Teil spielt 2094. Die Klimakrise hat voll zugeschlagen, es ist viel zu heiß, Lebensmittel sind rationiert. Amerika ist ein autoritärer Staat. Um die vielen Pandemien, die es in den Jahrzehnten davor gab, zu kontrollieren, wurde das Reisen verboten, aber auch Fernsehen, Bücher, Internet,… Homosexualität ist nicht direkt verboten, aber heiraten dürfen gleichgeschlechtliche Paare nicht mehr. Die Protagonistin lebt mit ihrem Mann in einer kleinen Wohnung in jenem Stadthaus am Washington Square. Sie ist Überlebende einer der Pandemien, aber gezeichnet fürs Leben. Ihr Großvater hat sie aufgezogen, er ist es auch, der in Briefen an seinen besten Freund, die 50 Jahre vor 2094 beginnen, erzählt, wie es so weit gekommen ist.
Das Bedrückende an diesem Teil ist, dass wir ja gerade selber in einer Pandemie leben, viele Elemente davon bereits jetzt stattfinden und die Entwicklungen, die erzählt werden, nicht unrealistisch sind.
In Wirklichkeit ist dieser Roman mindestens drei Romane. Da steckt so viel darinnen, das ist so komplex, das sind so viele wunderbar gezeichnete, sehr menschliche Charaktere voller guter und schlechter Seiten. Sehr schön finde ich auch, dass nicht nur das Haus am Washington Square ein Bindeglied ist, sondern auch Details der vorhergehenden Geschichte im letzten Teil wieder auftauchen bzw. zusammenhängen.
Sprachlich ist „Zum Paradies“ ein Genuss. Wunderschön zu lesen, sehr spannend erzählt, aber nie platt.
Ja, es ist tatsächlich ein sehr dickes Buch. Ja, ein wenig Zeit muss man schon einplanen. Aber es lohnt sich unglaublich, und man kann auch nicht mehr aufhören zu lesen. Für mich hat dieser Roman, der erste im noch jungen Jahr, die Latte gleich sehr hoch gelegt. Er ist einfach grandios!