Das Paradies ist für jeden Mensch anders.

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ismaela Avatar

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An „Zum Paradies“ hatte ich hohe Erwartungen, da ich Hanya Yanagiharas Buch „Volk der Bäume“ sehr gemocht habe. Und bei knappen 1000 Seiten bin ich sowieso immer mit an Bord!

In diesem Buch werden also drei unterschiedliche Geschichten ausgeformt, in einem Teil Amerikas, beginnend 1893 und mit jeweils ca. 100 Jahren dazwischen, das sich von einem liberalen Lebensort über einen in den Klauen des HI Virus, hin zu einem diktatorischen Gefängnis wandelt, in dem eine durch Seuchen und Pandemien müde Bevölkerung durch die Regierung bis in das kleinste Lebensdetail kontrolliert und gesteuert wird. Wer gegen die Regeln verstößt wird hingerichtet. Der Klappentext, aber auch das Vorwort im Buch selbst, spricht von einem fulminanten neuen Roman, aufwühlend, voller Emotionen, miteinander verwobene Geschichten, der Suche nach dem Paradies. Vielleicht habe ich mich ein bisschen zu sehr von diesen Vorab-Lobeshymnen mitreißen lassen – nach Beendigung des Romans bin ich nicht mehr ganz so euphorisch. Aber auch weit davon entfernt enttäuscht zu sein.

Die erste, und kürzeste Geschichte, spielt in einem stattlichen Herrenhaus am Washington Square, in einem freiheitlichen Teil Amerikas, in dem das Leben und die Liebe nicht so restriktiv beschnitten werden, wie im restlichen Teil des Kontinents, den Kolonien. Gleichgeschlechtliche Paare (mit und ohne Kinder) sind völlig normal, in einem Klima der Zufriedenheit und Rücksichtnahme werden Ehen arrangiert oder Kinder adoptiert. Doch bei allem schönen Schein gibt es auch Schattenseiten: der Hauptprotagonist verliebt sich in einen Musiklehrer, möchte mit diesem ein neues Leben beginnen, doch dieser ist für den reichen Erben nach Meinung des Großvaters dann doch nicht so sehr der passende Umgang. Trotzdem setzt der Enkel dieses Mal seinen Kopf durch.
Die zweite und dritte Geschichte, die beide etwa zwei Drittel des Buches ausmachen, bauen in etwa auf dem gleichen Schema auf. Eine auf den ersten Blick harmonische Beziehung wird durch äußerliche Einflüsse leicht angetrübt, bevor sie letztendlich auf die eine oder andere Weise durch verschiedene Gründe aufgelöst wird, und etwas Neues beginnt. Aber: war die erste Erzählung des 19. Jahrhunderts noch in einer sehr guten Länge, fing die zweite des 20. Jahrhunderts zwar ebenso gut an, wird dann jedoch im zweiten Teil, als es um den Vater der Hauptfigur geht, sehr weitschweifig und für mich persönlich auch etwas zu konstruiert bzw. etwas zu weit hergeholt, was die „Erschütterung“ angeht. Die dritte Geschichte des 21. Jahrhunderts hätte die Autorin gerne auf die Hälfte kürzen können. Vor allem der Briefwechsel zwischen Charles (der Großvater) und Peter als Stilmittel der Rückblende war für mein Empfinden zwar interessant, aber viel zu weitschweifig. Dabei ging die eigentliche Geschichte fast ein wenig unter.

Hanya Yanagihara hat eine große Gabe zu beschreiben und zu formulieren. Sie schafft es ganz bestimmte Stimmungen und Emotionen durch wenige Wörter und Sätze exakt zu transportieren, schreibt aber auch Schachtelsätze, die sich teilweise über eine halbe Seite erstrecken, und trotzdem lesbar bleiben. Die Charaktere sind fast bis in die kleinsten Nebenrollen plastisch und fast unverwechselbar, auch wenn deren Anzahl ab und an ein bisschen ausufert. Das macht das Buch insgesamt zu einem fesselnden Schmöker und einem Panoptikum an Ideen, Sub-Geschichten, Schauplätzen und Emotionen aller Art. Wer allerdings auf die große Verflechtung dieser Geschichten neugierig ist, oder einen gut aufgebauten Spannungsbogen wartet, wird jedoch etwas enttäuscht werden. Mir hat diese Tatsache das Lesen nicht vermiest, ich habe dieses Buch sehr gerne gelesen.