Die Geschichten der unendlich vielen Davids

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herrfabel Avatar

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Hanya Yanagihara. Die Hanya Yanagihara von "Ein wenig Leben" und "Ein Volk der Bäume" – Zwei Bücher, über die ich schon so viel Begeistertes gehört habe und die bei mir schon seit einer Weile ungelesen im Regal stehen, auf die ich mich freue und vor denen ich irgendwie auch etwas Ehrfurcht habe – hat ein neues Buch geschrieben. Oder besser gesagt gleich drei, denn in "Zum Paradies" schlummern mehrere Geschichten, die jeweils in ganz unterschiedlichen Jahrhunderten spielen und ganz unterschiedliche Schwerpunkte bedienen. Die verbindenden Elemente sind dabei ein altes Stadthaus am Washington Square, einzelne wiederkehrende Motive, die Spaltung zwischen gesellschaftlichen Klassen, die (auferlegten) Grenzen und der stete Wunsch nach Freiheit. [Hinweis: Ich versuche nun einmal so grob die Geschichte zu umreißen, doch so wirklich viel passiert gar nicht und ohne Spoiler komme ich da kaum aus, also Vorsicht beim Weiterlesen.]


“Hier sind wir als Menschen frei, aber nicht als Paar. Dort wären wir keine freien Menschen, aber wir wären ein Paar, wir wären wahrhaftig füreinander und würden miteinander leben, und niemand würde uns verspotten, niemand würde uns Einhalt gebieten, niemand könnte uns sagen, dass wir […] nicht zusammen sein dürften. David, ich frage dich: Was nützen die Freistaaten, wenn wir nicht wahrhaftig frei sein können?”

Das erste Buch spielt im Jahre 1893, in den Freistaaten, New York. Eden, David und John haben in frühen Kindheitstagen (David war fünf, John vier und Eden zwei) ihre Eltern an die Grippe verloren und leben seit dem bei ihrem Großvater. Die Familie der Binghams ist sehr wohlhabend und durch ihr Finanzinstitut haben sie sich nicht nur in den Freistaaten einen Namen gemacht. Und wie das damals so üblich war, versuchte der Großvater Nathanael aufgrund einiger komplizierter Umstände für seinen geliebten Enkel David eine Ehe zu arrangieren und nach passenden Partnern zu suchen. Die Wahl fiel dabei auf den dreißig Jahre älteren Charles Grifith. Sie treffen sich einige Male, doch die Begeisterung scheint sich nur bei Charles einzustellen. David ringt mehr mit sich selbst und verliert sich, trifft dabei zufällig auf den mittellosen Musiklehrer Edward, verliebt sich Hals über Kopf und steht dann vor erneuten schwierigen Entscheidungen und einer Liebe, mit der sein Großvater ganz gewiss nicht einverstanden ist.

“Die Zuneigung, die er für Edward verspürte, war aufregend, doch ebenso aufregend war die Heftigkeit dieser Zuneigung und die Geschwindigkeit, mit der sie sich entfaltet hatte. Vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen Leben fühlte er sich waghalsig, wild – als säße er auf einem fliehenden Pferd und könnte sich kaum auf ihm haltend, keuchend vor Lachen und vor Angst, während es eine weite Ebene entlanggaloppierte.”

Das zweite Buch spielt dann im Jahre 1993 und ist geprägt von der Aids-Epidemie. David, ein jüngerer Hawaiianer lebt mit seinem dreißig Jahre älteren, reichen Vorgesetzten Charles zusammen. Sie lernten sich lernen sich auf dem Herrenklo der Anwaltskanzlei kennen, sie trafen sich häufiger… und nun ja. David verschweigt ihm erfolgreich seine Herkunft/Geschichte, doch als er dann etwas später einen Brief von seinem im Sterben liegenden Vater erhält, kann er alles Geschehene nicht mehr verdrängen. Es verweben sich eine Geschichte voller Erschütterungen und Schicksalsfälle mit einer Abschiedsparty, mit der sich der bereits deutlich von Aids und der Chemotherapie gezeichnete Peter von seinen reichen Freunden verabschieden möchte, bevor er in die Schweiz aufbricht. Und während Charles sich eher um Peter kümmert, kreisen Davids Gedanken um seine Vergangenheit, seinen Vater, eine Begegnung mit einer Servicekraft und eine ebenfalls eingeladene gute Freundin.

“Später, als er bei Charles eingezogen war, hatte er auf diesen Moment zurückgeblickt und erkannt, dass er den Verlauf ihrer Beziehung hätte beeinflussen können; was, wenn er statt der Antwort, die er gegeben hatte, etwas gesagt hätte wie: O ja, ich stamme aus einer der ältesten Familien Hawai’is; meine Vorfahren waren Adlige. Jeder kennt uns. Hätten sich die Dinge anders entwickelt, wäre ich heute König. Es wäre die Wahrheit gewesen. Aber welchen Sinn hatte die Wahrheit?”
Eine von der Seuche gespaltene Welt bildet den Ausgangspunkt für die dritte Geschichte aus dem Jahre 2093. Eine junge Frau, Charlie, arbeitet im Labor und bereitet Mäuseembryos für die dort beschäftigten Wissenschaftler vor. Sie lebt gemeinsam mit ihrem Mann in einer Wohnung des Stadthauses, in Zone 8. Beide sind deutlich von einer früheren Seuche gekennzeichnet und sie fanden durch eine von Charlies Großvater beauftrage Ehevermittlung zueinander. Alles ist sehr strikt in Bereiche aufgeteilt, das Leben wird mehr oder weniger von der Regierung vorgegeben und überwacht. Zum Schutz vor einer neuen Seuche darf sich niemand unbefugt draußen bewegen, Essbares gibt es nur über zugeteilte Coupons, Duschen ist nur zu bestimmten Zeiten möglich, Kontaminationsanzüge werden eingesetzt und und und. Eines Tages läuft sie auf dem Weg zur Arbeit David über den Weg und ist sofort fasziniert von ihm. Sie treffen sich häufiger, er erzählt ihr von Neuengland, einer seuchenfreien Insel und seinem Plan sie dorthin mitzunehmen…dem Paradies. Doch das ist auch hier nicht die einzige Geschichte, denn Immer wieder gibt es Zeitsprünge, zurück zu den Anfängen der Pandemie. Der Wissenschaftler Dr. Charles Griffith schreibt Briefe an seinen Freund Peter und unterrichtet ihn von seiner angespannten ehelichen Situation mit seinem Mann, seinem sehr regierungsfeindlich eingestellten Sohn und seinen Bemühungen mit der Regierung das Ausbreiten eines unbekannten Virus zu verhindern. Doch irgendwie läuft auch hier vieles aus dem Ruder, es werden Exempel verübt, Verschwörungstheorien verbreiten sich, ein befreundetes Ehepaar, das am Washington Square lebt, stirbt und und und…

“Manche waren der Meinung, die Wissenschaftler würden nicht hart genug arbeiten – sie glaubten, wenn sie schneller arbeiteten, würde sich die Krankheit heilen lassen und das Leben besser werden […]. Manche glaubten, die Wissenschaftler würden an den falschen Lösungen arbeiten. Dann gab es die, die glaubten, die Wissenschaftler würden die Krankheiten in unseren Labors erschaffen, weil sie bestimmte Arten von Menschen ausrotten oder dem Staat helfen wollten, die Kontrolle über das Land zu behalten, und das waren die Gefährlichsten von allen.”

Ich kann zum Glück sagen, dass ich an dieses Buch recht unvoreingenommen herantreten konnte, schließlich kenne ich bis auf meine Erwartungshaltung gegenüber den Vorgängerromanen noch nichts von der Autorin und bin daher auch weniger enttäuscht, denn was sich auf dem Weg zum Paradies für ein Schauspiel bot… Oha. Die erste Geschichte rund um die Liebe eines jungen Mannes, fand ich ja anfangs noch ganz nett. Ich stieß mich zwar hier und da an so zeitlichen Gegebenheiten (zumindest kann ich mir es nicht vorstellen, dass damals in Freistaaten die Ehe zwischen zwei Männern akzeptiert wurde und so häufig vorkam), aber das war noch okay, bis sich der wohlhabende David dann plötzlich in den mittellosen Musiklehrer verliebte, es natürlich gleich das große Glück werden sollte, nur die Familie sich dagegenstellt und ihm dann sein Erbe entziehen will. Klischeekitsch hoch zehn… kann man mögen, will man aber eigentlich nicht. In der zweiten Geschichte geht es dann um einen reichen, älteren Mann und einen jungen Hawaiianer, einen Freund, eine Aids-Leidensgeschichte und ein Geheimnis. Ja… lass ich so stehen, das habe ich Großteils überflogen, denn das Mimimi, dieses tiefe Leiden, dieses erneute Reich-Arm-Ding, das war mir alles zu viel, zu nervig, zu nichtssagend. Und dann gibt es da natürlich noch die große, neue Welt mit einer Gesellschaft, die durch die ständigen Pandemien sehr gespalten wurde, eine Ehe zwischen einer Frau und einem homosexuellen Mann, eine weitere homosexuelle Liebe, die sich auch wieder weiteren Herausforderungen stellen muss und viel Pandemie- und Verschwörungskram – so als bräuchte man gerade in dieser Zeit noch mehr davon. Im Vergleich ist dies wahrscheinlich die stärkste Geschichte und doch war ich zunehmend genervter. Die zwei Handlungsstränge, die sich im Laufe der Zeit aufeinander zu bewegen und am Ende sehr vieles erklären sollen… Das war dann auch der einzige Grund warum ich überhaupt dran geblieben bin und doch habe ich In diesem Abschnitt ganze 200 Seiten übersprungen und hatte nicht das Gefühl irgendetwas verpasst zu haben und das abschließende Ende? Nun ja.
Keine der Protagonist*innen (ja, es gibt auch zwei Protagonistinnen und noch so ein paar weitere Randfiguren) hat mich berührt, in seine/ihre Gedankenwelt eintauchen lassen, alles blieb sehr klischeehaft und oberflächlich oder echte Emotionen wurden vom Gejammere übertüncht, interessante Dinge sehr kurz gehalten und dass die Protagonist*innen in jeder Geschichte die gleichen Namen trugen, sorgte für ein großes Verwirrspiel. Und so bleibt am Ende dann auch einzig die Idee des Stadthauses, die wiederkehrenden Motive in verschiedensten Ausprägungen, offene Enden über die man ewig diskutieren könnte und die schon sehr tolle historische Atmosphäre im ersten Teil als ‘schöne Elemente’ übrig. Vom angepriesenen “Der neue Roman von Hanya Yanaghara ist eine Aufforderung, eine Zumutung, ein Meisterwerk menschlicher Gefühle.” leider keine Spur, wobei doch, eine Zumutung ist es dann schon… leider.
Ob ich nun die Vorgängerromane demnächst noch lesen werde oder sie weiterhin vor mir herschiebe, bis ich dieses hier alles vergessen habe… ich weiß es nicht, aber eins steht fest Zum Paradies möchte ich nicht.