Die Tür zu gleich drei Welten

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„[…] und dann würde er seinen ersten Schritt tun; seinen ersten Schritt in ein neues Leben; seinen ersten Schritt – zum Paradies.“

Fünf Jahre ist es nun her, dass die asiatisch-amerikanische Autorin Hanya Yanagihara ihre deutsche Leserschaft mit „Ein wenig Leben“ gleichermaßen verstört wie begeistert hat – und ihr Epos um vier Freunde polarisiert noch heute. Trotzdem wurde allein die Ankündigung ihres neuen Romans „Zum Paradies“ weltweit gefeiert. Heute erscheint dieses, von Stephan Kleiner übersetzte, Meisterstück der Literatur, das Freiheit und Entropie in drei unterschiedlichen Zeiträumen erforscht: Von einem alternativen New York des 19. Jahrhunderts bis hin zu einer totalitären Zukunft – is this the land of the free?

1893, 1993 und 2093: Drei Menschenleben kreisen in drei Geschichten auf drei Zeitebenen um wiederkehrende Themen wie familiäre Tradition und koloniale Gewalt, homosexuelle Liebe und persönliche Freiheit, chronische Krankheit und psychische Gesundheit. Die Protagonist*innen teilen sich ihre Namen und sind doch nicht dieselben – es eint sie der Wunsch vom Paradies. Über drei Jahrhunderte bewegen sie sich stetig darauf zu und doch unumwunden davon weg. Beinahe als Beweis, dass Geschichte sich wiederholt und Zeit nicht linear ist, ziehen sie alle in leicht veränderter Form wiederkehrende Schleifen, während sich ihre Utopie zur Dystopie entwickelt. Konstant bleiben nur gegenständliche Fragmente, die den Raum in der jeweiligen Epoche verankern: ein Haus am Washington Square ist gleichermaßen Zeitzeuge wie Dreh- und Angelpunkt der Ereignisse, aber auch Hawaii als Sehnsuchtsort bleibt stetig ein Fundament der Handlung.

Hanya Yanagihara öffnet in „Zum Paradies“ die Türen zu gleich drei verschiedenen Welten und gibt Lesenden Ausblick auf eine düstere Zukunft, die durch Klimakatastrophen, intervallartige Pandemien und staatliche Diktaturen gekennzeichnet ist. Untermauert durch einige Fakten der jüngsten Geschichte, schwinden die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, entsteht beim Lesen ein wahres Unbehagen. Beinahe fühlt es sich so an, als hätte Yanagihara den Lauf der Zeit nicht nur nieder-, sondern direkt weitergeschrieben. Ihr Stil ist so eindringlich wie eh und je – und doch ist „Zum Paradies“ nicht „Ein wenig Leben“. Hier werden viele Missstände zwar benannt, Ekel ist jedoch kein Stilmittel und Elend wird nicht ausgeschlachtet. Ihre Charaktere glänzen durch die vielen Details, die sie klug zu komponieren und fesselnd miteinander zu verbinden weiß. Ihre Interaktionen stellen die tiefschürfenden Fragen unserer Zeit und entwickeln sich bis zum Schluss zu einem atemlosen Crescendo, das immer weiter anschwillt bis es sich in voller Lautstärke entlädt.

„Zum Paradies“ ist eine aufwühlende und beispiellose Sinfonie an wiederkehrenden Themen und Motiven, eine berührende Variation des amerikanischen Experiments. Es ist ein Buch über die Hoffnung jenseits der Rationalität und das Wagnis, an Dinge abseits der allgemeinen Logik zu glauben. Es ist Dunkelheit und Herzschmerz, aber auch Licht und Liebe. Dieser Roman möchte durchdacht und besprochen werden – am besten im gemeinsamen Buddyread oder auch im Buchclub. Absolute Leseempfehlung!