Es ist kompliziert ...

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In ihrem fast 900 Seiten langen Werk „Zum Paradies“ zeigt Hanya Yanagihara, dass das Leben des Einzelnen immer kompliziert ist, wenn es aus dem gesellschaftlich anerkannten Rahmen fällt. Das eigene Leben im Einklang mit den inneren Bedürfnissen zu leben, erfordert Mut, lässt sich aber aufgrund äußerer Umstände oftmals nur eingeschränkt verwirklichen. „Zum Paradies“ erzählt drei unterschiedliche Geschichten, die lose durch einen gemeinsamen Ort - den Washington Square in New York, sowie einige weitere Merkmale verbunden sind. Der erste Teil spielt im 19. Jahrhundert und entwirft eine alternative gesellschaftliche Realität, in der Homosexualität gleichwertig zu heterosexuellen Verbindungen anerkannt und in ihrer Normalität nicht weiter der Rede Wert ist. Trotzdem erlebt David die Grenzen seiner Freiheit als er sich unstandesgemäß verliebt. Die Höllenqualen und Selbstzweifel, die Sehnsüchte und Unsicherheiten, die der Protagonist durchlebt, weil ihm sein Großvater klar spiegelt, dass er eine solche Verbindung nicht billigen kann sowie die Gräben, die sich aufgrund unterschiedlicher Sozialisation zwischen den Liebenden im Alltagsleben auftun, hat die Autorin sehr eindrücklich beschrieben. Dieser erste Teil hat mir persönlich am besten gefallen.
100 Jahre später im zweiten Teil rückt die Aids Problematik des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt. Hanya Yanagihara fokussiert darüber hinaus in diesem Abschnitt Identität, Herkunft und Zugehörigkeitsgefühl. Eine schwierige Vater-Sohn Beziehung wird mit der Kolonialgeschichte Hawais verknüpft. Hier hat mich der Roman das erste Mal verloren. Die Rückblicke, die das Leben des Vaters (und auch des Sohnes) auf Hawai beschreiben, empfand ich als zäh, viel zu lang und ausufernd. Es fiel mir in diesem Abschnitt schwer gedanklich dabeizubleiben, eine emotionale Bindung zu den Protagonist:innen und ihren Erlebnissen aufzubauen. Da meine Gedanken beim Lesen immer wieder abschweiften, wäre mir fast entgangen wie differenziert Yanagiharas Blick auf die Themen Kolonialismus, Kulturalismus, kulturelle Aneignung, Identität und Zugehörigkeit ist.
Mit dem dritten und längsten Teil, der in einer dystopischen Zukunftswelt spielt, bin ich wieder besser zurecht gekommen. Aber auch hier empfand ich die Geschichte, die sich zu großen Teilen in Form von Briefen entfaltet, als schleppend. Es fehlte mir - wie im zweiten Teil - an erzählerischer Tiefe und auch die Protagonist:innen blieben blass. Emotional konnte mich diese Geschichte vor allem deshalb erreichen, weil sie in einer Welt spielt, die durch Klimawandel und Pandemien gezeichnet ist. Die aufgezeigten Entwicklungen und gesellschaftlichen Einschränkungen gingen mir nah, weil Ansätze davon bereits heute diskutiert werden und aufgezeigt wird, welches Zerstörungspotential Pandemien haben können. Die Szenarien entwerfen eine beängstigende Zukunftsvision, die durchaus vorstellbar ist. Alle drei Geschichten erzählen von Vätern, die sich nicht um ihre Kinder kümmern konnten und Großväter, die diese Rolle einnehmen. Die Namensgleichheit der Protagonist:innen in allen drei Geschichten verweist auf wiederkehrende Probleme in verändertem Gewand; sie irritierte mich aber mehr als dass sie mir beim Eintauchen in die jeweilige Geschichte geholfen hätte. Auch für mich war dieser Roman kompliziert: Er hat das Potential zu großer Literatur. Immer wieder gab es sehr bewegende, überzeugende Abschnitte. Letztendlich waren diese jedoch in der Minderzahl; die einzelnen Geschichten wurden für mich nicht überzeugend miteinander verbunden und ich musste mich durch große Teile regelrecht durchkämpfen. Aber der Weg zum Paradies ist ja bekanntlich nicht einfach ...