Das Leben einer schwarzen Frau - in voller Wucht

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schneeglöckchen_gk Avatar

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Sie ist erfolgreich im Finanzsektor, erhält eine Beförderung, fliegt häufig von London nach New York, hat sich erst kürzlich eine schicke Wohnung gekauft, verdient so viel Geld, dass sie Vermögensberater hat und ist mit einem in der Politik tätigen, aus wohlhabender Familie stammenden Briten liiert. Man könnte meinen, das Leben der anonym bleibenden Protagonistin ist perfekt. ABER: sie ist eine schwarze Frau und hat Krebs. Im Nachgang der Diagnose stellt sie ihr Sein in Frage, zweifelt den Sinn ihrer bisherigen Karriere an und hadert mit ihrer Beziehung.


Die Leser*innen werden in einzelnen Sequenzen in das Leben der Erzählerin hineingezogen und bekommen mit voller Wucht zu spüren, welchen Demütigungen sie tagtäglich ausgesetzt ist. Ob es das Verhalten der männlichen Kollegen im Büro ist oder das Gefühl von Nicht-Zugehörigkeit, das von Behörden und Gesellschaft vermittelt wird. Die Autorin spricht zahlreiche Themen an, was ich gelungen fand, da sich dadurch viele Ansatzpunkte zum Nachdenken oder weiter recherchieren bieten. Omnipräsent ist durch die ganzen Kapitel „die Zusammenkunft“, eine Familienfeier auf dem Anwesen der Eltern ihres Freundes, zu dem die Autorin auch eingeladen ist. Dieses bevorstehende Event lässt sie über ihren Stand in der Gesellschaft, die grundverschiedenen Voraussetzungen, mit denen sie und ihr Freund aufgewachsen sind und die fragwürdige Möglichkeit der Zugehörigkeit zu dieser Familie nachdenken.

Mir hat sehr gut gefallen, wie die junge Frau mit der Dichotomie ihrer Rolle umgeht; sie ist ein Teil des Hamsterrads und gehört gleichzeitig zu einer marginalisierten Gruppe. Immer wieder reflektiert sie ihre eigene Position, äußert Verständnis für das (diskriminierende) Verhalten ihres Gegenübers und hat doch so offensichtlich unter den Verhältnissen zu leiden. Rassismus, Alltagssexismus, (vermeintliche) Diversität, Kolonialismus und Gesellschaftskritik sind nur einige der besprochenen Themen. Der Protagonistin haftet trotz der persönlichen Themen immer eine gewisse Distanz an, auch weil ihr Namen unbekannt bleibt. Ihr Erzählstil ist rational, häufig auch nüchtern und beschreibend, beobachtend. Über andere Menschen und Männer wird meist nur mit unbestimmten Pronomen gesprochen, wodurch die Allgemeingültigkeit der Situationen gut verdeutlicht wird.

Man erfährt weniger über den familiären Hintergrund und die Migrationsgeschichte der Protagonistin, als ich aufgrund des Klappentextes erwartet habe. Der Roman war für mich rund und das offene Ende passend.


Natasha Browns Stil ist fragmentarisch und verdichtet. Auf den rund 100 Seiten erzählt sie sehr direkt, pointiert und teilweise drastisch davon, was es bedeutet eine schwarze Frau in London zu sein. Dabei wirft die Autorin den Leser*innen keinesfalls nur lieblose Brocken hin, sondern kuratiert die Szenen virtuos und verwebt die Fäden der Zusammenhänge zu einer stimmigen Erzählung. Sie beweist ein feines Gespür dafür, sich abwechslungsreich zwischen schmerzhaft und poetisch, alltäglich und philosophisch, persönlich und politisch, wütend und reflektiert zu bewegen.

Das deutsche Cover finde ich ansprechend. Gerade im Gegensatz zum englischen Cover finde ich es sehr gelungen und in der Abstraktion in vielerlei Hinsicht zum Buch passend. Am deutschen Titel „Zusammenkunft“ (vgl. im Englischen: „Assembly“) finde ich schön, dass man ihm eine gewisse Mehrdeutigkeit zuschreiben kann. Zum einen steht er für die Zusammenkunft vieler Menschen, aber auch das Aufeinandertreffen zweier Welten, bei der Familienfeier auf dem Anwesen der Eltern und zum anderen könnte er auch für das Zusammenkommen in der Beziehung mit dem Freund stehen. Oder schlicht für das Zusammenfallen von so vielen (negativen) Ereignissen im Leben der jungen Frau.


Wer keine ausschweifende Unterhaltungsliteratur erwartet, sondern bereit ist, die Wucht von komprimierter Gegenwartsliteratur und die Konfrontation mit unbequemen Wahrheiten zu ertragen, der wird bei diesem Buch belohnt. Es wartet ein anregendes Leseerlebnis und gekonnt zu einer besonderen Erzählung verbundene Fragmente. Ein gelungenes Debüt.

Ich sehe meine Rezension zwar nicht im Kanon der überschwänglichen Lobeshymnen, möchte aber auf jeden Fall zu dieser Lektüre ermutigen. Natasha Brown ist eine wichtige britische Stimme, die Gehör finden sollte.


Abschließende Anmerkung: Mir ist bewusst, dass ich als weiße, deutsche Frau die Lebenswirklichkeit von schwarzen Frauen nie vollständig beurteilen kann. Das kann nie der Anspruch einer Rezension sein. Natasha Brown ist es durch ihre subtile Erzählweise aber sehr gut gelungen, die Feinheiten der demütigenden Situationen nachvollziehbar zum Ausdruck zu bringen, wodurch sie ihre Leser*innen auf einer besonderen Ebene erreicht.