Starkes, sehr eindringliches Debüt

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Es macht einen Unterschied mit welchem Geschlecht, mit welcher Hautfarbe, ob man arm oder reich geboren wird - die Chancengleichheit besteht nur auf dem Papier.
Natasha Browns Debüt „Zusammenkunft“ spiegelt die seelische Notlage der namenlosen britischen Protagonistin, die sich in einem Zustand großer Erschöpfung befindet. Als Schwarze Frau verdankt sie ihre Karriere im Finanzsektor vor allem harter Arbeit. Schon immer musste sie besser als ihre Weißen Kolleg:innen sein; ihre erst kürzlich verkündete Beförderung sehen viele dennoch nicht als individuelle Leistung. Sie sehen eine „Quoten-Schwarze“, schließlich hat sich die Firma „Diversität“ auf die Fahnen geschrieben und kann damit auch in der Öffentlichkeit punkten. Die Protagonistin dient als Aushängeschild einer erfolgreichen „Integrationspolitik“, einer offenen, liberalen Gesellschaft. „Hier geboren, Eltern hier geboren, immer hier gelebt - trotzdem, nie von hier.“ (S. 61). Der Pass weist sie als Britin aus; im Alltag wird sie jedoch immer als Bindestrich-Britin gedacht. Was solche Zuschreibungen mit einem Menschen machen, zeigt Brown sehr eindringlich. Die Diagnose, schwer erkrankt zu sein, stellt die Protagonistin vor schwerwiegende Entscheidungen und verursacht einen regelrechten Gedankenstrom. Wie bereits ihre Eltern und ihre Großeltern hat sie für ein besseres Leben gekämpft - sie spürt das Gewicht dieser seit Generationen bestehenden Erwartungshaltung in jeder Faser ihres Körpers. Aufgeben war nie eine Option. „Zusammenkunft“ erzählt keine Geschichte, verfügt nicht über einen linearen Handlungsstrang; stattdessen reihen sich einzelne Episoden, Sequenzen, Bilder und Gedanken aneinander. Sie alle zeugen von den Anstrengungen des bisherigen Lebens, den permanent präsenten Sexismen, Rassismen und Mikroagressionen, den Erwartungshaltungen an sich selbst, der Angst nicht gut genug zu sein, den Schuldgefühlen und dem Erstaunen darüber mit welcher Leichtigkeit und Ignoranz ihre Weißen Freund:innen durchs Leben gehen. Hautfarbe spielt in der Klassengesellschaft des postkolonialen Großbritanniens noch immer eine Rolle und beeinflusst das Zusammenleben, die gegenseitige Wahrnehmung, aber auch die Selbstwahrnehmung aller Beteiligten mal offen, mal subtil. Wie schön wäre es, wenn Bücher dieser Art nicht mehr notwendig wären, weil „White Privilege“ weltweit der Vergangenheit angehörte.
Brown jongliert in ihrem experimentellen, kaum mehr als 100 Seiten langen Roman, gekonnt mit Worten. Jeder Satz trifft, schmerzt und lädt zum Nachdenken ein. Das Ende ist offen, die letzten fünf Doppelseiten leer; sie laden dazu ein, Geschichte neu zu schreiben.