Vorspiegelung falscher Tatsachen

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alex_buchgeplauder Avatar

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ZWEI VERNÜNFTIGE ERWACHSENE, DIE SICH MAL NACKT GESEHEN HABEN von Anika Decker – allein dieser ausgefallene Titel hat meine Aufmerksamkeit geweckt und mich neugierig gemacht. Der Klappentext hat sein Übriges dazu getan.
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Darum geht’s: Nina geht stramm auf die 50 zu. Sie ist geschieden und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihr Ex ist in zweiter Ehe mit der blutjungen Influencerin Lulu verheiratet und nochmal Papa von Zwillingen geworden. Auf deren Geburtstagsparty lernt Nina den 20 Jahre jüngeren David kennen und fühlt sich zu ihm hingezogen.
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Die Anfangsszene macht deutlich: Anika Decker ist vom Fach. Als Drehbuchautorin hat sie maßgeblich zum Erfolg der deutschen Komödien Keinohrhasen und Zweiohrküken beigetragen. Und auch in ihrem Roman wirft sie die Leser*innen in eine filmreife Szene, die sofort Spaß macht und das Kopfkino in Gang setzt. Ein guter Start für die Age Gap-Liebesgeschichte, die der Klappentext verspricht. Auf diese Story war ich neugierig. Darüber wollte ich etwas lesen. Und damit beginnt das große Dilemma des Buches, dessen Handlung sich dann irgendwie ganz anders entwickelt, als erwartet.
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Der Plot beginnt wie eine typische deutsche Komödie. In meinem Kopf habe ich bereits nach den passenden Schauspielern für die verschiedenen Rollen gesucht. Die Filmszenen haben sich ganz automatisch vor meinem inneren Auge abgespielt. Schnell zeichnet sich aber auch ab, dass der Roman mehr ist als eine Gute Laune-RomCom. Die Handlung entwickelt schnell Tiefgang. Dazu tragen auch die verschiedenen Perspektiven bei, die ich beim Lesen eingenommen habe. Und obwohl ich den Ansatz gut und vielversprechend fand, haben damit gleichzeitig auch meine Probleme mit dem Buch begonnen.
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Kurz gesagt: Die Geschichte hat sich komplett anders entwickelt, als erwartet. Nina & David spielen hier gar nicht die erste Geige. Zwar kehren wir immer mal wieder zu ihnen und ihren Gefühlen füreinander zurück, aber die Geschichte konzentriert sich nicht darauf. Stattdessen ist die Age Gap-Lovestory, die ich eigentlich lesen wollte, irgendwie in den Hintergrund gedrängt worden. Anika Decker packt nämlich noch so viele andere Themen in die Story, dass sie die richtige Balance verliert. Neben der eigentlichen Lovestory geht es um alle möglichen Beziehungs-, Freundschafts- und Familienbande. Außerdem wird auch noch das Fass #metoo aufgemacht. Jedes Thema für sich genommen ist interessant und wichtig. Alle zusammen sind aber zu viel des Guten. Die Geschichte ist für meinen Geschmack komplett überfrachtet. Sie wirkt auf mich gewollt anspruchsvoll und wird anstrengend. Teilweise entfernt sich die Handlung über so viele Seiten von der Lovestory, dass diese bei mir schon fast in Vergessenheit geraten ist. Das scheint der Autorin auch selbst so gegangen zu sein, denn das Ende kommt dann irgendwie “Ach da war ja noch was”-mäßig und mit wenigen Worten dahin geklatscht daher. Ich hab’s einfach nicht gefühlt.
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Hätte der Klappentext bei mir nicht komplett falsche Erwartungen geweckt, hätte das Buch wahrscheinlich besser abgeschnitten. Aber wenn ich es als die versprochene Age Gap-Liebesgeschichte bewerte, muss ich leider sagen: Thema verfehlt. Sorry, aber das hätten Gaby Hauptmann und Hera Lind in der Hochzeit ihres Frauenroman-Schaffens in den 90ern besser hinbekommen. Da hat der Fokus gestimmt und was draufstand, war auch drin. ZWEI VERNÜNFTIGE ERWACHSENE, DIE SICH MAL NACKT GESEHEN HABEN wird vom Verlag hier hingegen einfach komplett falsch beworben und das ist schade, weil man dem Buch und der Autorin damit letztendlich keinen Gefallen tut.