Ueber den schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens

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Manchmal ist ein Zwilling kein Geschwisterkind, das mit einem zusammen geboren wurde. Manchmal ist ein Zwilling ein Mensch, mit dem man zusammen aufwächst, ein bester Freund, mit dem man alles erlebt, alles erleben kann. Jemand, der einen erst vollständig macht. So ist das zumindest bei Althea und Oliver. Sie gehören zueinander, seit sie sechs Jahre alt sind. In der kleinen Stadt Wilmington teilen sie alles, ihren Alltag, ihre Unfälle, ihre Zimmer und Gärten. Sie sind die besten Freunde und haben beide auch nicht besonders viele andere. Vor allem Althea nicht. Doch sie werden älter und zwischen ihnen beginnt sich etwas zu verändern. In jenem Sommer, in dem sie siebzehn Jahre alt sind. In jenem Sommer, in dem sie sich küssen und Oliver schläft, zwei Monate lang. Und als er aufwacht, ist nichts mehr so, wie es war.

Man könnte meinen, Geschichten über zwei beste Freunde, die mit dem Älterwerden andere Gefühle füreinander entwickeln, wurden schon zuhauf erzählt und können kaum noch mit Neuem aufwarten, doch zumindest bei diesem Roman irrt man mit solch einer Vermutung. Olivers Krankheit, das Kleine-Levin-Syndrom, bietet einen spannenden Zusatzaspekt, der der Handlung eine ganz neue Richtung verleiht. KLS ist eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Phasen mit ungewöhnlich hohem Schlafbedürfnis auslöst. Im Jahr 1997, zu der Zeit also, in der der Roman spielt, war sie noch weitestgehend unbekannt. So sind Oliver, seine Freunde und seine Familie ziemlich alleingelassen mit diesem plötzlich auftauchenden Syndrom, das Oliver mehrmals für mehrere Wochen sein Leben verpassen lässt. Darüber hinaus sind es jedoch die Charaktere, die dem Roman eine ganz besondere Note verleihen. Vor allem mit Althea hat die Autorin eine Hauptfigur geschaffen, die häufiger mal aneckt, die sich anderen gegenüber abweisend bis aggressiv verhält und die selbst aber nicht weiß, woher all diese Wut in ihr eigentlich kommt. Das Erwachsenwerden wird hier sehr offen und ehrlich geschildert, ohne Beschönigungen und nicht so typisch pubertär. Die Jugendlichen rauchen und trinken und nehmen ab und zu auch mal Drogen, sie lesen, sie probieren sich aus, sie versuchen herauszufinden, wer sie eigentlich sind, was sie ausmacht. Besonders Oliver und Althea versuchen das, in jenem Sommer, nach jenem Kuss: herausfinden, wer sie sind, unabhängig vom anderen, von ihrem Zwillingsstern.

An manchen Stellen wirkt die Handlung in die Länge gezogen und strukturell etwas brüchig, doch andererseits ist es auch schön, wenn Figuren und Geschichten Zeit gelassen wird, sich zu entwickeln. Das Drumherum ist sehr entscheidend in diesem Roman, die Menschen, denen Oliver und Althea begegnen, die Entscheidungen, die sie treffen, und vor allem die Veränderungen in ihrem Umgang miteinander. Manchmal wirken sie in ihrem Analyseverhalten doch sehr klug und erwachsen, dann aber wieder überfordert, unsicher, wie es durchaus typisch ist für dieses Alter. All diese verschiedenen Aspekte des Romans werden sprachlich sehr bildhaft umgesetzt, man kann sich richtig einrichten in der Atmosphäre, sich hineinlegen in diese Geschichte. Auch wenn man irgendwann wieder aus ihr erwachen muss.

Ein ehrlicher, offener und sprachlich gekonnt umgesetzter Jugendroman über die Unsicherheiten des Erwachsenwerdens, über Freundschaft, Liebe und Selbstständigkeit, der trotz des auf den ersten Blick gängigen Themas ungewöhnlich aufgebaut ist. Tolle, anspruchsvolle Lektüre, die nachhallt, in einem hochwertig gestaltetem Buch.