Am Wendepunkt des Lebens

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rippchen Avatar

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Ein eher seltenes, aber durchaus interessantes Prozedere bietet das Vorablesen-Team hier allen Neuerscheinungs-Fans: Die Leseprobe von Ayana Mathis´ Roman „Zwölf Leben“ beginnt auf Seite 115, also beinahe am Ende des ersten Drittels der Geschichte – und das wohl aus gutem Grund.
Die davorliegende Story kann der Leser aus der kurzen Inhaltsangabe entnehmen: Hattie, schwarze Migrantin und spätere Mutter von 12 Kindern, erhofft sich im Norden der USA, in Philadelphia, ein besseres Leben.
Zum Beginn der LP ist sie bereits zwölffache Mutter – und steht im vierten Lebensjahrzehnt an einem Scheitelpunkt ihres Lebens.
Lebte Hattie bisher mit ihrem Mann August, Vater von elf ihrer Kinder, zusammen, bringt ihre neue Beziehung zu Lawrence und ihr gemeinsames Kind Ruthie die kinderreiche Familie durch Hatties Auszug in große Schwierigkeiten. Doch nicht nur die Kinder und der mit der Situation vollkommen überforderte Ehemann August sind unglücklich.
Auch Hattie selbst kommt mit den neuen Gegebenheiten nicht klar, ihr seelisches und körperliches Leid verändert auch ihren Charakter. Aus der ehemals „stählernen“, unnahbaren und voller Sehnsucht nach einem besseren Leben steckenden Schönheit, wie Lawrence sie kennenlernte, wird zunehmend eine verängstigte und skeptische Frau. Das führt dazu, dass sie ihn zunehmend abweist und dadurch für ihn mehr und mehr ihre Liebenswürdigkeit und Attraktivität verliert. Das oft erträumte, harmonische gemeinsame Leben wird nicht nur überschattet durch Hatties Angst im Hinblick auf Lawrences Spielsucht, sondern auch durch die Sehnsucht nach ihren zurückgelassenen Kindern …
Das emotionale Auf und Ab aller in der Roman-Leseprobe beschriebenen Personen – von den drei erwachsenen Hauptakteuren bis hin zu den Kindern – führt Autorin Ayana Mathis mit beeindruckendem Einfühlungsvermögen aus: Die unglaublich warmherzige Schilderung eines um seine neue Aufgabe als Vater und die selbst auferlegte Verantwortung bemühten und zugleich doch zweifelnden Lawrence ist ebenso beeindruckend wie die Gewissensbisse jener Mutter Hattie, die ihre Kinder zurückließ.
Ebenso tiefgründig ist die literarische Darstellung jenes Vaters und Ehemannes August, der sich als Verantwortung ablehnender Gelegenheitsarbeiter mit Bar- und Nachtclubbesuchen das Leben verschönte und nach dem Weggang seiner Frau nun plötzlich mit einem zermürbenden Alltag konfrontiert wird: hungrigen, streitenden, traurigen und liebebedürftigen Kindern konfrontiert ist.
Die zuweilen geradezu philosophisch anmutende Gedankengänge und Ausführungen der Autorin bringen auch den Leser in tiefere Sphären jener Geschichte der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, deren Akteure mit Boykott, zivilem Ungehorsam und gewaltlosem Widerstand gegen Benachteiligungen kämpften - zwischen Stolz und Resignation hin- und hergerissen. Ein spannendes Thema - und eine hervorragende literarische Umsetzung.