Meisterhaft witzig-charmante Erzählkunst

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
rippchen Avatar

Von


Der im 17. Jahrhundert angesiedelte historische Roman „Adieu, Sir Merivel“ spielt anfangs in England, später dann im Frankreich zur Zeit des Sonnenkönigs Ludwig XIV.
Der Mittfünfziger Sir Robert Merivel, Arzt und treuer Untergebener des englischen Königs, lebt auf Binold Manor in der Grafschaft Norfolk im Osten Großbritanniens.
Bevor er nach Frankreich aufbricht, um einem der berühmtesten Monarchen Europas seine Aufwartung zu machen und dessen prunkvollen Amtssitz Schloss Versailles zu bestaunen, gibt die Leseprobe einen Teil der Vorgeschichte dazu preis.
Die beginnt mit einem unter seiner Matratze entdeckten, verstaubten Päckchen, das einen längst vergessenen Schatz frei gibt: Ein Buch, von ihm selbst verfasst. Der Inhalt, die Geschichte seines einstigen Lebens mit allen Höhen und Tiefen, bleibt bis auf wenige Anspielungen zunächst geheim. Dass es jedoch durchaus dunkle Geheimnisse enthält, deutet der Hinweis auf eine unangenehme Erinnerung an einen alten Kommilitonen an sowie die Tatsache, dass Merivel sein Geschriebenes vor vielen Jahren bereits vernichten, zumindest aber auf Nimmerwiedersehen versteckt wissen wollte.
Präsentiert bekam er es von seinem seit 20 Jahren engsten Vertrauten, dem betagten und durch entsprechende körperliche Gebrechen sowie geistige Ausfälle gebeutelten Diener William Gates, genannt Will. In fast sklavischer Verbundenheit stand ihm der liebenswerte 75-Jährige stets voller Achtung und treu ergeben zur Seite: Ein Grund mehr, seinen Untergebenen im Alter weder zu entlassen, noch abzuschieben oder im Rang herabzusetzen.
Bleibt die Lösung des „Dienst am Herren“ bis zum Tod des treuen Genossen, wenngleich der Gedanke der „natürlichen Lösung des Problems“ Sir Merivel in Panik versetzt.
Allein diese Überlegung zeigt Merivels stark gefühlsbetonte, mit Melancholie durchsetzte Verbundenheit zu dem treuen Hausgenossen, der ihm quasi die Familie ersetzt. Melancholie befällt Merivel auch im Hinblick auf seine nach Eigenständigkeit strebende 17jährige Tochter Margaret: Doch uneigennützig lässt er sie ziehen, trotz drohender Einsamkeit.
All diese Ereignisse schüren in ihm die Gedanken über das eigene Altern, über den (Un-)Sinn und Zweck seiner bisherigen Lebensführung – und nicht zuletzt über einen möglichen Tod in Einsamkeit, Armut oder gar Bedeutungslosigkeit. Bevor ihn jedoch die tristen Befürchtungen erdrücken, plant er auch für sich selbst den Aufbruch in ein neues Leben: Der Reise nach Versailles zu König Ludwig XIV sieht nicht nur Merivel gespannt entgegen, sondern auch seine Reisebegleiter: Wir Leser!
Als Ich-Erzähler aus der Sicht Sir Merivels besticht die Autorin Rose Tremain durch große Sprachkraft. Ihre liebevoll-poetischen und atmosphärisch-intensiven Schilderungen von Örtlich- und Persönlichkeiten spiegeln den Zeitkolorit und stecken voller berührender Poesie. Mit einem Hauch Melancholie in reizvoller Kombination mit humorvollem Augenzwinkern seziert sie die Lebenssituation Merivels, bevor dieser in seiner zweiten Lebenshälfte noch einmal aufs Neue durchstartet. So erhält der Leser Gelegenheit zum Schmunzeln angesichts geniester Karottenstückchen auf der Tischdecke, einer bei unliebsamen Befehlen vorgetäuschten Taubheit des Dieners oder der verzweifelten Papageientaucher-Diskussion von Vater und Tochter. Und doch weicht das Lachen zuweilen einem Tränchen der Rührung angesichts des ängstlich bemühten Dieners, sich keinen „Winterfieberfrost“ einzufangen, den sich rührend um seinen Untergebenen sorgenden Merivel und die durch Achtung und Respekt geprägte Loyalität beider.
Wer derart scharfsichtig und zugleich so unglaublich einfühlsam und voller menschlicher Wärme schreibt wie Rose Tremain, der entführt seine Leser auf eine faszinierende literarische Entdeckungsreise.