Das Alter bringt Eitelkeit ...

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Sir Robert Merivel lebt in sehr speziellen Verhältnissen. Dem englischen König Charles II. zu Gefallen heiratete er nur auf dem Papier dessen jüngste Mätresse Celia und erhielt dafür die Ländereien von Bidnold in Norfolk, sowie den dazugehörigen Adels-Titel. Merivel kann weder eine Beziehung zu der Frau haben, mit der er formal verheiratet ist und die er liebt, noch kann er eine andere Frau heiraten. Mit fast 60 Jahren lebt Merivel nach einem Intermezzo in London wieder auf seinem Landsitz und praktiziert noch als Mediziner. In Merivels Alter stolpert ein Mann schon einmal über das eigene Schwert. Das nahende Ende seines Lebens wird ihm deutlich an seiner knapp 20-jährigen Tochter, die sich in der Familie der Nachbarn wohler fühlt als in Merivels Haushalt und durch die Hinfälligkeit von Merivels treuem Diener Will. Will verbrachte sein Leben in Merivels Diensten und hat keine eigene Familie, die sich im Alter um ihn kümmern könnte. Bisher hat Merivel kritiklos hingenommen, dass Mätressen abserviert werden, wenn Männer ihrer überdrüssig werden, und Menschen in Arbeitshäuser und Irrenanstalten abgeschoben werden, wenn ihre Kräfte schwinden. Auch mit der angeschlagenen Gesundheit und Amtsmüdigkeit seines Gönners Charles II. muss Merivel sich abfinden. Anlass das Buch zu lesen, war für mich die "soziale" Frage, wie Merivel sich Will gegenüber an dessen Lebensabend verhalten wird.

Die Handlung beginnt im Jahr 1683 und wird von Merivels Dialogen mit seinem längst verstorbenen Freund John Pearce unterbrochen, der zur Glaubensgemeinschaft der Quäker gehörte und ein Irrenhaus betrieben hatte. Näheres dazu in "Zeit der Sinnlichkeit" (1989), prunkvoll verfilmt 1995. Merivel reist an den Hof Ludwigs XIV., um "seine Gemütslage zu verändern". Die Reise ordnet sich dem Handlungsverlauf unter und dient zum Kennenlernen der beiden verwandten Seelen Merivel und Louise de Flamanville. Per Kutsche durchquert der eloquente Lebemann Merivel mehrfach Europa, ehe er in Neuchâtel in der Schweiz über eine mögliche Heirat mit seiner unglücklich verheirateten Angebeteten entscheiden muss. Der Arzt, der in London die Pest von 1666 überlebte, präsentiert sich als schlitzohriger Kerl, äußerst schlagfertig in seinen Dialogen mit Will. Merivels Naivität in Bezug auf die Lebensbedingungen der einfachen Menschen nimmt man einem Arzt nur schwer ab. Für Merivel ist ein von Falschheit geprägtes Leben offenbar einfacher als Ehrlichkeit gegenüber sich selbst.

Fazit
Rose Tremains Fortsetzung von Robert Merivels Abenteuern nascht sich rein sprachlich locker und weich weg wie eine Tüte Karamellbonbons. Merivels Ziele sind mir in der in Ich-Form erzählten Geschichte lange unklar geblieben. Eine Hauprfigur, die sich die meiste Zeit auf sich selbst bezogen durch ihr Leben treiben lässt und auf Entscheidungen anderer wartet, reisst mich einfach nicht mit. Dass Merivel mit seiner Scheinheirat auch seine Ehre verkaufte, wird ihm selbst vermutlich erst klar, als König Charles begehrliche Blicke auf seine Tochter Margaret wirft. Für sie wünscht Robert Merivel sich Besseres als den vergänglichen Glanz einer königlichen Mätresse. Rose Tremain fährt in ihrem Roman drastische Sexszenen mit Prostituierten auf, verheimlichte Homosexualität und Männlichkeitsrituale auf dem Duellplatzf. Von der Sprache des Buchs bin ich sehr angetan, doch gab es insgesamt zu wenig Szenen (wie Merivel bei der Behandlung von Patienten), die mich inhaltlich begeistern konnten.

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Zitat
"Ich habe nicht mehr genügend Zeit. Manchmal habe ich ohnehin das Gefühl, ich hätte zu lange gelebt. Ich habe fünf Hunde überlebt. Und ich sage Euch, Merivel, das Alter bringt keine Weisheit. Das Alter bringt Eitelkeit, dummes Geplapper und eine entsetzliche Besorgtheit um Besitz und Reichtum. Die Vorstellung, ich könnte mein Vermögen verlieren, verfolgt mich nicht weniger als die fliegenden Maschinen." [Louises Vater] (S. 332)