Eine interessante Familiengeschichte

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
bluevanmeer Avatar

Von

Es soll ein großes Abenteuer werden. Nora und Theresa Flynn wandern von Irland nach Amerika aus. Noras Verlobter Charlie ist schon vor Ort und wartet auf die beiden Schwestern. Aber dann kommt alles ganz anders als gedacht und Nora und Theresa sprechen mehrere Jahrzehnte nicht mehr miteinander.

All die Jahre ist ein Familienroman und gleichzeitig auch eine Geschichte einer Auswanderung, die zu scheitern droht. Während in ihrem irischen Dorf alles klar geregelt war, sehen sich die Schwestern in Boston mit vielen neuen Freiheiten konfrontiert, mit denen sie nie gelernt haben umzugehen. Nora reißt sich zusammen. Sie weiß, dass sie Charlie heiraten soll, auch wenn sie ihn nicht liebt. Das hatten die Familien schon in Irland abgesprochen. Nora ist ihr eigenes Leben weitestgehend egal. Sie erfüllt ihre Pflicht, arrangiert sich mit ihrer Ehe und hält nichts von Tagträumereien. Nora glaubt daran, dass es Theresa besser haben soll. Für ihre Schwester sollen in Boston alle Türen offen stehen, hier kann sie Lehrerin werden, immerhin war sie die beste Absolventin der Dorfschule. Aber Noras Plan geht nicht auf. 

Theresa stürzt sich in ihre neue Freiheit und wird von einem verheirateten Mann schwanger. Der Vater des Kindes interessiert sich wenig für Theresa, er hat ja bereits eine eigene Familie. In den 1950er Jahren und im katholischen Umfeld der Schwestern ein Skandal. Nora zwingt die 18-jährige Theresa dazu, das Kind im Geheimen auf die Welt zu bringen, zusammen mit Charlie adoptiert sie dann den Sohn ihrer Schwester. Nora ist 21 und damit volljährig und darf entscheiden, was mit ihrem Neffen passiert. Sie erfüllt ihre Pflicht, glaubt sogar  daran, Theresa einen Gefallen zu tun. "Nora hat sich das Baby einfach genommen", denkt Theresa. Die Schwestern werden fast fünfzig Jahre nicht miteinander reden. 

Ihr Leben lang hatte ihre Schwester sie zähmen wollen, hatte versucht, sie für die Welt zurechtzumachen. Nora hatte einen dummen Mann geheiratet, den sie nicht liebte. Wieso machte die Tatsache seiner Existenz aus ihr eine bessere Mutter, als Theresa es für ihren eigenen Sohn war? (S. 104)

All die Jahre ist der dritte Roman von J. Courtney Sullivan, Sommer in Maine steht hier im Moment noch ungelesen im Regal. Aus verschiedenen Blickwinkeln und mit langen Rückblicken wird die Familiengeschichte der Schwestern erzählt. Geheimnisse und versteckte Vorwürfe gehören selbstverständlich zum Familienalltag der Raffertys.

Da gibt es John, einen aufstrebenden Politiker, der gemeinsam mit seiner Frau, die sich für etwas besseres hält, ein chinesisches Mädchen adoptiert hat; Bridget, die lesbisch ist und darüber nicht mit ihrer Mutter sprechen kann, obwohl sie seit Jahren mit ihrer Freundin zusammenlebt und mit ihr ein Kind plant; Brian, der nichts auf die Reihe kriegt und in der Bar seines Bruders Patrick arbeitet. Und da ist Patrick, das Lieblingskind von Nora - der Sohn von Theresa.

Im Haus ihrer Kindheit und Jugend waren Verdrängung und Unterdrückung von Gefühlen üblich. Nora und Charlie schliefen in getrennten Betten. Insgeheim nannten Bridget und John sie deshalb Ernie und Bert. (S.154)

Auch wenn bei den Raffertys nicht alles rund läuft, treffen sich die Geschwister regelmäßig und versuchen den Kontakt untereinander zu halten. Obwohl die Kinder in der amerikanischen Gesellschäft längst angekommen sind, können Charlie und Nora nicht von der alten Heimat lassen, Nora glaubt auch Jahre nach der Auswanderung noch daran, dass sie irgendwann zurückkehren wird. Als sie nach Jahrzehnten wieder die grüne Insel betritt, merkt sie selbst, dass sie sich etwas vorgemacht hat. 

Offene Gespräche innerhalb der Familie sucht man vergebens. Weder kann Bridget ihrer erzkatholischen Mutter begreiflich machen, dass ihre Freundin nicht ihre Mitbewohnerin ist, noch hat Nora mit ihren Kindern darüber gesprochen, dass Patrick der Sohn ihrer Schwester ist. Und auch John und Patrick konkurrieren seit Jahren um die Anerkennung der Mutter. Nora zeigt wenig Gefühle und auch zu ihrer Schwester hat sie seit Jahren keinen Kontakt mehr. Theresa lebt als Nonne in einem Kloster, weitestgehend abgeschieden von der Welt. Als es zu einem Trauerfall in der Familie kommt, kündigt sich überraschend Theresa an. 

Sullivan schreibt sehr locker und handwerklich geschickt, eine Geschichte, die keine großen Überraschungen bereit hält. Außerdem gibt sie spannende Einblicke in die irische Auswanderercommunity in den 1960er Jahren in Boston. Durch die Perspektivwechsel zwischen Theresa und Nora und die verschiedenen Zeitsprünge ergibt sich so ein unterhaltsamer Familienroman, den man sehr schnell wegschmökern kann. Sullivan schafft es auch, Nora, die viele versteckte Probleme mit sich herum trägt und mir als Leser*in unglaublich fremd ist, als Figur zu gestalten, die fast sympathisch darin wirkt, unbedingt das richtige tun zu wollen.

Thematisch erinnert die Story ja auch ein bisschen an die Erfolgsserie Call a Midwife, die im London East End der 1950er Jahre spielt und in der sich die Hebammen und Nonnen neben den ständigen Hausgeburten häufig mit ähnlichen Problemlagen konfrontiert sehen wie die Geschwister Nora und Theresa - mit einer ungewollten Schwangerschaft. Allerdings wirken die Figuren hier noch glatter als in der BBC-Erfolgsproduktion. Und für diejenigen, die die Serie kennen, wird vielleicht deshalb klar, weshalb ich diesen Roman nicht schlecht fand, aber eben auch nicht fantastisch gut.