Kein 0815-Teenie-Kitsch Roman, sondern ein berührendes Lesehighlight.

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franci Avatar

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"Alles Okay" von Nina LaCour.

Erst einmal möchte ich mich für das Rezensionsexemplar dieses schmerzlich-schönen Jugendbuchs bei "Vorablesen.de" und dem "Hanser." Verlag bedanken.

"Ein Buch so überwältigend
wie die schönsten Erinnerungen.
So traurig wie die besten Songs.
So hoffnungsvoll wie die
wunderbarsten Träume."

Diese Zeilen auf der Rückseite haben mich veranlasst, dass ich mich für dieses Buch beworben habe.
Und ich kann mit Überzeugung sagen: Dieses bittersüße Versprechen wurde eingehalten.
Ich laß die 201 Seiten in wenigen Stunden, was neben meiner Neugier auch auf den einfachen, unkomplizierten Schreibstil von Nina LaCour zurückzuführen ist. Der Titel gewann zu Recht 2018 den US-amerikanischen Literaturpreis "Michael L. Printz Award".

Was verbirgt sich hinter dem schlichten Titel und dem blauen Einband, auf dem, in sanften Rosé gehalten, ein Mädchen steht, welches auf ihrer kleinen Insel inmitten Schneeflocken am stürmischen Strand auf's Meer blickt?

Marin, die bodenständige Hauptprotagonistin, die die einfachen Dinge liebt, erzählt ihre Geschichte, lässt uns an Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen teilhaben.
In San Francisco wächst sie bei ihrem alten, kranken Großvater in einem Häuschen nahe dem Strand auf, wieso dies der Fall ist, wieso Marlin weder Erinnerung noch Fotos, Andenken an ihre Mutter hat, jedoch alle Surfer am Strand sie mit Namen kennen erfährt der Leser erst ein wenig später. Die eigentliche Handlung beginnt in den Sommerferien bevor das junge Mädchen und all ihre Freunde auf Colleges gehen - der letzte Sommer vor dem Erwachsenwerden. Jedoch landen wir zuerst in der Gegenwart: Es ist Winter, kurz vor Weihnachten und Marin bleibt alleine im Wohnheim zurück. Denn dieses ist ihr zu Hause, die Feiertage und Ferien verbringt sie minimalistisch, auf sich gestellt dort, denn sie kann - sie will - nirgends anders hin. Schon gar nicht zurück an das Meer, an den Strand, in das Haus wo sie inmitten einer tragischen Lüge aufwuchs, wo alles von Erinnerungen und Fragen getränkt ist.
Kurz lernen wir die wissbegierige Mitbewohnerin Hannah kennen, bevor sie sich verabschiedet um zu ihrer Familie zu fahren. Hannah ist wichtig für Marin, ein ruhiger Pol, ein Anker, der Marin, bei dessen Ankunft in stinkenden, dreckigen Kleidern am ersten Schultag ganz selbstverständlich den "Ersten Eindruck" nach dem scheußlichen, zerlotterten ersten Eindruck gewährt hat.
Anfangs erfahren wir, dass Mabel für drei Tage zu Besuch kommen wird - die Beste Freundin, mit der es monatelang keinerlei Kontakt gab, dessen unzählige Nachrichten und Anrufe unbeantwortet blieben, die einen Langstreckenflug auf sich nimmt um all das ungesagte auszusprechen, die Wahrheit, den Grund für das plötzliche verschwinden, die Ignoranz von Marin zu erfahren. Denn seit diese klammheimlich durch die Hintertür des Polizeireviers geschlüpft ist, gab es keinerlei Kontakt zu den Menschen von Ocean Beach. Bevor das Semester begann und die Türen des Wohnheims geöffnet wurden, strandete diese verwirrte, zutiefst verletzte Seele in einem dreckigen Motel, mit nichts außer ihrem Handy, dem Portmonee und einem Kopf voller Fragen. Wovor sie geflohen ist? Vor der Wahrheit, vor der sie ihr ganzes Leben die Augen verschloss. Zu spät wurde ihr klar, dass sie weder ihren Granny noch das Haus, in dem sie zwar gemeinsam, dennoch einsam lebten, wirklich kannte - vielleicht aus Angst die leise Ahnung beiseiteschob, die manchmal aufflammte. Mabel kam weder mit leerem Herzen noch mit leeren Händen - sie hatte ein großzügiges Angebot, eine ehrliche Bitte im Gepäck: 'Komm mit mir.' Aber will Marlin aus ihrer Einsamkeit gerettet werden und endlich reden, wieder leben? Ist sie stark genug den Erinnerungen an ein Mädchen, das es nicht mehr gibt oder nie gab, in's Angesicht zu sehen?
Zu Beginn ist es ein steifes Wiedersehen zwischen den einst vertrauten, verbundenen Mädchen, die so viel mehr hatten als nur eine gewöhnliche freundschaftliche Beziehung. Die so viel mehr verloren haben, als der letzte Sommer zu Ende ging.

Der Einstieg fiel mir unglaublich leicht, ebenso wie das mitfühlen. Ich konnte mir die Erinnerungen an das Leben vorher, die Orte und Menschen klar vor Augen führen, sie sehen; die Verwandlung der einst literatur- -& kunstbegeisterten, analytischen Marlin - zu einem innerlich einsamen, gedankenverlorenen Mädchen miterleben. Durch die bildliche Schreibweise, durch melancholische Poesie ermöglicht es die Autorin selbst zu Marlin zu werden, ihren Schmerz zu spüren und zu verstehen. Hin und wieder verliert sich der Leser in Rückblenden, die als einzelne Kapitel auftauchen. Dadurch erfährt man nach und nach die Hintergründe, was Zeit zum Spekulieren gibt; die Neugier wird also nicht am Anfang des Buchs befriedigt, sondern von Kapitel zu Kapitel weiter entfacht; Fragen werden geklärt während gleichzeitig neue auftauchen. Das macht für mich eine Geschichte, an der man dran bleiben möchte, aus: genügend Raum und Zeit für eigene Interpretationen und Gedanken. Keine Seite war unbedeutend, was es ermöglicht aktiv immer weiter zu lesen und alles andere auszublenden, dennoch musste ich das Buch ein, zweimal kurz beiseite legen - um durchzuatmen. Denn unbeschreiblich oft trifft die Autorin mit ihren intensiven Worten in's Herz. Obwohl die Sätze und Abschnitte zum Teil einfach und klar gehalten wurden, schafft es Frau LaCour gezielt zu berühren und eine tragische Schwere in ihre Formulierungen zu legen, wie ich es selten erlesen durfte.
Wer sich für dieses Buch entscheidet, muss nicht nur mit Gefühlen rechnen, sondern auch mit dunklen Geheimnissen, unerwarteten Wendungen und Überraschungen. Es geht um Verlust, Selbstaufgabe, Liebe und auch um die Frage, ob man sich mutig, hoffnungsvoll für ein Leben entscheiden kann und will, welches nicht aus Instantnudeln und selbstauferlegter Einsamkeit besteht. Liest Du "Alles Okay" wird nach dem, meiner Meinung nach perfektem Ende, nicht sofort "Alles Okay" sein; ich zumindest denke auch jetzt noch über vieles nach und schlage einzelne Seiten noch einmal auf, um mich von der Poesie küssen zu lassen.

"Ich hatte die Traurigkeit verdrängt. Fand sie in Büchern. Weinte über Romane statt über die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit war schnörkellos, bodenlos. Sie hatte keine poetische Sprache, keine gelben Schmetterlinge, keine epischen Regenfälle. (...) Die Wirklichkeit war tief genug, um darin zu ertrinken." (S. 80 / 81 )