Kann man der eigenen Schuld entkommen?

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kkruse Avatar

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Mit dieser Frage beschäftigt sich John Boyne in seinem neuen Roman „Als die Welt zerbrach“ auf psychologisch meisterhafte und emotionale Weise und führt so die Geschichte aus „Der Junge im gestreiften Pyjama“ fort. Doch auch ohne Kenntnis des Vorgängers lässt sich dieses Buch ohne Probleme lesen.

Über 80 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg lebt Gretel Fernsby in London ein nach außen hin ruhiges Rentnerleben. Doch in ihrem Inneren verfolgen sie immer noch die Schrecken des Holocausts, die sie als Tochter eines Lagerkommandanten in Ausschwitz hautnah miterlebt hat. Nach Ende des Krieges ist es ihr gelungen, der Vergangenheit zu entfliehen und ihre Familiengeschichte zu verheimlichen, sodass sie sich ein neues, gut situiertes Leben aufbauen konnte. Doch ihr Gewissen ist nicht rein und es plagt sie immer wieder die Frage, inwiefern sie aufgrund ihrer Mitwisserschaft Schuld am Tod so vieler Menschen trägt. Als eine junge Familie in die Nachbarschaftswohnung zieht und Gretel bemerkt, dass dort auch Unrecht geschieht, wird diese Schuldfrage aktueller denn je und Gretel steht erneut vor der Wahl, die Augen zu verschließen und eine Mitschuld zu tragen oder tätig zu werden, um Verbrechen anderer Menschen zu verhindern.

Bei der Lektüre des Romans stellt man sich beständig die Frage, was Schuld ist und wer wann schuldig wird. Nur die Verbrecher oder auch die Mitwisser, die nicht handeln, um Unrecht zu verhindern? Wer muss bestraft werden und sind Verbrechen irgendwann gesühnt? Insofern ist „Als die Welt zerbrach“ sicher keine leichte Kost und regt auf emotionale Weise zum Nachdenken über diese Thematik an. Doch dem Autor John Boyne gelingt es dennoch, einen leichten Erzählton zu verwenden, sodass man trotzdem nicht von dem Buch erschlagen wird. Gretel ist eine überraschend vitale Seniorin, deren Blick auf die Welt manchmal sogar zum Schmunzeln anregt, obwohl ihre Vergangenheit bei Weitem nicht zum Lachen ist. Dieser Umstand macht Protagonistin auch psychologisch interessant, da ich beim Lesen lange unentschlossen war, ob sie mir nun als betagte Großmutter sympathisch ist oder ob sie mich aufgrund ihrer Vergangenheit und oft zynischen Kommentare eher abstößt. Dass hinter der vermeintlich friedlichen Fassade menschliche Abgründe lauern können, zeigt John Boyne in diesem Roman auf mehr als eine Weise!

Bis zuletzt ist der Roman emotional aufrüttelnd und thematisiert schonungslos ehrlich die Verbrechen sowohl im Holocaust als auch in unserer Gegenwart. Da vor allem in den letzten Kapiteln drastische Szenen geschildert werden, die mich richtig erschauern ließen, ist es sicher auch nicht verkehrt, dem Buch eine Triggerwarnung hinzuzufügen. Allzu jungen LeserInnen würde ich das Buch nicht empfehlen, da es sie teilweise doch zu sehr verstören könnte, aber für erwachsenere, jugendliche LeserInnen ist der Roman schon geeignet, um sie auf anspruchsvolle aber zugleicht unterhaltsame Weise zum Nachdenken über die Themen Schuld und Verantwortung anzuregen.

Kann man der eigenen Schuld entkommen? Auf diese Frage gibt es sicher auch nach der Lektüre von „Als die Welt zerbrach“ keine abschließende und erst recht keine einfache Antwort.
Kann man diesem Roman entkommen? Auf diese Frage gibt es meiner Meinung nach nur eine Antwort: Nein! Zum einen, weil John Boyne eine so wichtige und immer noch aktuelle Thematik behandelt, zum anderen, weil das Buch trotz aller Ernsthaftigkeit unterhaltsam zu lesen ist und einen nicht mehr loslässt. Eine gelungene Fortsetzung des Bestsellers „Der Junge im gestreiften Pyjama“: