Wenn sich die »Zimperliese« der Vergangenheit stellt und eine Reise tut

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elke seifried Avatar

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„Sie setzte sich zu ihm. Ihr Herz klopfte heftig, während er so ruhig blieb, der Junge mit den traurigen Augen, der sich vor nichts fürchtete. Der Kirschbaum war ihre Zuflucht, ein geheimer Ort, an dem sie sich sicher fühlten, selbst wenn es auf dem Hof keine Sicherheit gab.“

Die 90-jährige Edna, die in ihrer Kindheit Schreckliches erlebt und, da man Dämonen nicht wecken soll, jahrelang geschwiegen und sich ohne Erwartungen an die Gesellschaft aus der Welt zurückgezogen hat, lebt fast abgeschottet in ihrem Häuschen mit dem verwilderten Garten. Noch, denn nun wird ein Platz in einer Seniorenresidenz frei, und dort soll sie landen, wenn doch nur nicht Papagei Emil wäre, der da nicht mit einziehen darf. Als Adele, die den Dorfladen betreibt, wie immer einmal wöchentlich ihre Einkäufe und den Stern bringt, scheint die Chance für Edna gekommen, dass sie die Last eines einst gegeben Versprechens doch noch abschütteln und Emil dorthin bringen kann, wo er eigentlich hingehört.

Als Leser lernt man Edna kennen, entdeckt dann im Stern mit ihr einen Bericht über den bei einem Erdrutsch verschütteten Jacob, erkennt dort den Jugendfreund mit der unverwechselbaren Narbe am Lid auf einem Bild wieder, packt sofort mit ihr einen kleinen Rucksack mit Dingen, die ihr schon damals bei ihrer Flucht als Schwabenkind treue Dienste erwiesen haben und macht sich mit ihr aus dem Vinschgau auf zu ihm nach Ravensburg. Schicksal? Vielleicht, auf jeden Fall wird man mit Edna gezwungen, den größten Teil des Weges tatsächlich noch einmal zu Fuß zu gehen. Bei ihrer anstrengenden Reise über die Berge gilt es so einige Hindernisse zu überwinden, aber Aufgeben gibt es nicht, schließlich gilt es eine alte Schuld zu begleichen. Während man mit Edna den beschwerlichen Weg, teilweise fast schon abenteuerlichen Roadtrip geht, trifft man zudem auf ganz besondere Menschen, für die alle gilt, „Viele Menschen, denen sie begegnet war, hatten sich nicht sofort als das gezeigt, was sie wirklich waren.“. In kleinen Zwischenkapiteln kommt außerdem noch Adele zu Wort, der Edna sehr ans Herz gewachsen ist, und die auf der Suche nach dem Platz in ihrem Leben und ihrer Familie ist.

Auf dem Weg leben bei Edna auch unzählige Erinnerungen wieder auf, an das, was mit der Hoffnung „Als sie weggegangen war, hatten ihr die Eltern gesagt, sie würde es dort gut haben. Dazu solle sie nur Padre Gianni auf einer langen, schönen Reise über die Berge folgen, ohne wie sonst auf die Zeit achten zu müssen. Sie würde den gesamten Frühling, Sommer und Herbst auf dem Hof verbringen.“, begonnen hat und sich dann als schreckliches Los eines der tausenden von Schwabenkindern– viertausend jährlich, wenn die Zeiten sehr hart waren, aber viele kamen mit Schmugglern, so dass man nicht weiß, wie viele es waren– die drei Jahrhunderte lang über die Berge hierhergekommen sind um unter unmenschlichen Bedingungen auf den Höfen fast bis zur Erschöpfung zu schuften, entpuppt. Schreckliche Schicksale, über die bisher viel zu wenig bekannt ist.

Die Autorin verwendet unheimlich viele Bilder und Vergleiche und ich konnte mir die einzelnen Szenen und ihre Beschreibungen vor meinem inneren Auge regelrecht ausmalen. „Sie war immer noch dieselbe Edna mit den Falten um die Augen, die sich kreisförmig ausbreiteten wie Wellen, die ein flach geworfener Kiesel in einem Teich hinterlässt.“, oder auch so tolle Landschaftsbeschreibungen wie, „Der Regen hatte vor einer Weile aufgehört, und ihren Blicken bot sich eine atemberaubende Aussicht. Vom Abendlicht beleuchtet, ragte der Kirchturm aus dem Reschensee, als hätte ihn ein Kind irgendwo ausgeschnitten und in das falsche Bild geklebt. Orangefarbener Nebel hüllte ihn ein. »Wunderschön«, flüsterte sie andächtig. »Und stellen Sie sich vor, dort unten ist ein ganzes Dorf.«, sind nur zwei Beispiele dafür. Gut gefallen hat mir, dass ich auch immer wieder schmunzeln durfte, wofür amüsante Szenen, wie z.B. wenn sie plötzlich mitten in einer Piratentour für russische Familien landet oder der hochprozentige Killepitsch zu gut schmeckt, und es dann heißt, »die gerade noch neben mir saß, hat mir einen Saft zum Probieren gegeben, Herr Tenzin. Er schmeckte ausgezeichnet. Aber ich glaube, jetzt habe ich ein paar Probleme mit meiner Brille«, pointierte Dialoge der Art, »An all diesen esoterischen Blödsinn glaube ich nicht.« Edna legte ihm eine Hand auf den Arm, sie meinte es ernst. »Ich auch nicht, Max. Glauben Sie wirklich, dass ich mein Leben damit verbracht habe, Bäume zu umarmen? « und auch Ednas teils trocken, witzige Kommentare der Art, »Nein, aber ich mag Totenköpfe und so was nicht…« »… denn so was haben nur Proleten«, gesorgt haben. Auch Beschreibungen wie, „sauste auf der geraden Strecke mit einer Geschwindigkeit dahin, die sie sich nicht einmal hätte träumen lassen, als sie im Schwarzweißfernseher den Start der ersten Mondrakete miterlebt hatte.“, haben für ein Schmunzeln gesorgt. Die Autorin hat mich emotional mit ihrer Geschichte dabei auch total eingeholt. Edna ist mir ganz schnell ans Herz gewachsen und ich habe mit ihr gelitten, wenn ich von den furchtbaren Erlebnissen lesen musste, die sie als Schwabenkind durchmachen musste. Es hat mir regelrechte Stiche im Herzen verursacht, wenn die Bäuerin z.B. dem kleinen Kind die Puppe nimmt, weil es sich auch Heimweh und Angst einnässt oder wenn sie vom Knecht missbraucht wird und anfangs noch gar nicht weiß, was mit ihr geschieht. Ich habe zunehmend mit ihr gefiebert, dass sie die Reise durchsteht, sie niemand aufhalten und sie am Ende Jacob alles erklären, noch sagen kann, was sie gesagt haben hätte wollen. Nicht selten gab es zudem Momente, die mich gerührt innehalten haben lassen, weil sie von einer tollen Freundschaft zwischen Jacob und ihr berichten. Eine tolle Zugabe sind zudem die besonderen Momente mit Papagei Emil, bei Sorgen, ihn verloren zu haben angefangen, bis hin zu überraschend, rührenden Erkenntnissen, was Jacob ihm beigebracht hat.

Edna mit ihren Zweifeln, ihren Selbstvorwürfen, aber auch Hoffnungen ist grandios gezeichnet. Romina Casagrande hat allen ihren Mitspielern unheimlich viel Profil verliehen, sie mit liebevollen Macken und Besonderheiten ausgestattet, ist dabei auch authentisch geblieben und hat ganz viel Herzblut an den Tag gelegt. Ein jeder ist besonders, Rocker Roland, der ihr tatsächlich seine Kutte überlässt und so viel besser kocht als das leicht schräge Pärchen Priska und Flo, denn es gilt, „Gerade hatten sie das Abendessen beendet: Seitan (der zwar aussah wie ein Steak, aber leider nicht so schmeckte), Sojaschinken (der mit Schinken bedauerlicherweise nur den Namen gemein hatte) und Gemüseröllchen (aber na ja, nach den Soßen, die Roland ihr in seinem Wohnwagen serviert hatte, würde ihr wohl alles andere fad vorkommen).“, und auch Adele, mit dem man so mitfühlen kann, sind nur wenige Beispiele.

Alles in allem bin ich begeistert, die Autorin hat hier wirklich ein ganz besonderes Gesamtpaket geschnürt, das mich von Anfang bis Ende grandios unterhalten hat. Fünf Sterne sind da keine Frage.