Blut und Hoffnung überall

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fraedherike Avatar

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"Irgendwas Politisches passierte. Aber was noch mal? Waren es die Hungerstreiker? Nein, noch nicht. War es ein Mord der Shankill-Schlächter? Nein, diesmal nicht. War jemand in der Gegend erschossen worden? Ach ja, genau. Es war jemand in der Gegend erschossen worden, und damit fing es an." (S. 96)

[TW: explizite Gewaltdarstellungen, Essstörung, psychische und körperliche Gewalt, Mobbing] Gewaltverbrechen, bewaffnete Übergriffe, Blut überall. Es ist das Jahr 1969, die Troubles, ein großer Identitäts- und Machtkonflikt zwischen den Republikanern und Protestanten um die Zugehörigkeit Nordirlands, beginnt. Die Menschen schlagen Bretter an die Fenster, denn sie haben Angst: Angst vor den englischen Truppen, vor der IRA, voreinander. Inmitten all der Unruhen wächst Amelia als jüngstes Kind der Familie Boyd Lovett in Belfast auf, doch sie kümmert sich wenig um all das, was da draußen passiert. Viel wichtiger: ihre Schatzkiste. Dort bewahrt sie ihre Fundstücke auf, ein Plastikschaf, Elektroschrott, den sie auf der Straße findet - und Gummigeschosse. Überall ist sie von Gewalt umgeben: in der Schule, zu Hause und auf der Straße; es ist Alltag für sie zu sehen, wie Menschen erschossen werden, gemobbt werden, geisteskrank werden. Diese "neue Normalität" hinterlässt nicht nur in ihr Spuren, die ihr Leben prägen sollen, doch Amelia kämpft sich durch - was bleibt ihr auch anderes übrig, wenn sie am Leben bleiben will?

Es sind Bilder, die man nicht mehr vergisst, die sich einbrennen, heißes Eisen auf rosiger Haut: unbedarfte Gewaltexzesse, sexuelle Übergriffe, paramilitärischer Vigilantismus, Alkoholabhängigkeit kleiner Kinder. Und das ist erst der Beginn all dessen, was Anna Burns in ihrem Debütroman "Amelia" (OT: No Bones, aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll) mit klaren Worten, unerschrocken und intensiv skizziert. Über den gesamten Zeitraum der Troubles von 1969 bis 1998 begleiten wir Amelia, ein achtjähriges Mädchen, und ihre Familie. Furchtlos und unglaublich neugierig nimmt sie ihre Welt in kindlicher Naivität wahr, denn Krieg und Gewalt sind für sie Alltag. Sie ist abgestumpft, hinterfragt es schon gar nicht mehr, wenn die Straße vor ihrem Haus plötzlich von bewaffneten Gruppen gesäumt ist. Wieso ihr Vater blutüberströmt, schwer atmend am Boden liegt? Ach, ist schon alles gut. Doch je älter sie wird, desto mehr wird sie sich all dessen bewusst, was um sie herum passiert und sie versucht, vor sich und ihrem Körper zu fliehen - um der Welt zu entkommen. Sie entwickelt eine Essstörung, hält einen strikten Plan aus Tagen mit und ohne Essen ein, ist an der weiterführenden Mädchenschule, die sie später besucht, auch gang und gäbe so. Aber Schule wird eh überbewertet: Sobald sie volljährig ist, geht sie. London, das ist ihr Traum. Bis dahin dauert es noch, also: Tanzen gehen, Alkohol trinken, Spaß haben. Von allem zu viel, zu oft, krankhaft. Und überall immer noch: Gewalt. Tod. Abhängigkeit und Krankheit. Aufwachen, klar sehen. Flucht.

Dieses Buch hat mich auf eine perfide Art begeistert wie abgestoßen. Es ist einfach krass, wie ausdrucksvoll, empathisch und schmerzhaft Anna Burns die Zeit und das Leben des Menschen während der Troubles beschreibt, denn es geht nicht nur um Amelia, sondern auch um Menschen in ihrer Familie, ihren Bruder Mick und ihre Schwester Lizzie, um ihre Freund*innen. Liebevoll, beinahe sanft beginnt die Geschichte, doch man merkt früh, dass etwas im Argen ist, immer näher kommen die Aufstände, immer öfter hört man das Knallen von Maschinengewehren und zerberstendem Glas, Schreie. Rapide häufen sich die Übergriffe, expressiver und qualvoller werden die Beschreibungen; alles zieht sich in mir zusammen. Es ist, als schlüge mir eine Faust in den Magen, ich möchte die Augen schließen, mich wegdrehen; es ist einfach zu hart, grenzt ans Abstruse - und es klingt wie ausgedacht, wie das Drehbuch eines schlechten Horrorfilms. Doch so wird es zugetragen haben. So abgestumpft, so kaputt ist die Gesellschaft, sind die Menschen ob all der Gewalt geworden. Es ist Normalität, es passiert nebenher zu dem, was sie Leben nennen. Aber ich konnte nicht aufhören zu lesen. Es war wie ein Sog, einfach so gut konstruiert, phänomenal geschrieben, unglaublich fesselnd und interessant, den politischen Entwicklungen und den Auswirkungen auf die Gesellschaft, dem Schicksal Amelias zu folgen. Denn sie geht ihren Weg, bergauf, bergab, gezeichnet und voller Hoffnung, dass sie all das durchleben wird. Und am Ende: durchatmen, die Bilder verarbeiten. Was für eine kranke Scheiße - aber so literarisch so genial.