Fordernd, stilistisch schwierig und eigenwillig, bedrückend - dennoch auf seine Art gelungen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
buchlesenliebe Avatar

Von

1969 im katholisch geprägten Arbeiterviertel Ardoyne in Belfast/Nordirland. Amelia Boyd Lovett ist etwa 8 Jahre alt als die sogenannten Troubles beginnen und sich ihr Leben, das ihrer Familie, Verwandten, Nachbarn und Freunde schlagartig ändert. Willkürliche Gewalt, Kniescheiben-Zerschießungen als neuer „Volkssport“, Morde und spurlos verschwundene Menschen gehören fortan zur Tagesordnung, zur alltäglichen Realität. 37 Gummigeschosse zählt Amelia zu ihren kostbarsten Besitztümern, die sie in einem großen Koffer unter ihrem Bett versteckt. Eine Kindheit zwischen Kampfinstrumenten, Trümmern, Leichen und traumatisierten Menschen. Ein Leben in ständiger Alarmbereitschaft.

Amelia wächst als junge Frau heran, die individuelle und kollektive Traumata in sich trägt, sinnbildhaft einen Krieg gegen den eigenen Körper führt, in den Alkohol, die Essensverweigerung und Anorexie flüchtet. Um zu vergessen, was nicht vergessen werden kann. Als Überlebensstrategie. Obwohl es ihr gelingt, Belfast zu verlassen, sind depressive Episoden, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Psychosen und Nervenzusammenbrüche über viele Jahre ihre alltäglichen Begleiter. Die traumatischen Erlebnisse ihrer Kindheit und Jugend die Gespenster und treuen Begleiter (in) der Gegenwart.

„Amelia“ ist der Debütroman der nordirischen Autorin Anna Burns und liegt nun auch in deutscher Übersetzung von Anna-Nina Kroll vor. Und eine abschließende Meinung fällt mir extrem schwer. Die Lektüre ist mehr als fordernd - nicht nur aufgrund der absolut düsteren Atmosphäre, den drastischen Gewaltdarstellungen, der Konfrontation mit sexuellem Missbrauch, Suiziden usw., sondern vor allem auch aufgrund des eigenwilligen erzählerischen Stils und der fehlenden Textkohärenz. Eine Haupthandlung fehlt. Vielmehr liest sich „Amelia“ als ein Genremix aus Episoden-und Bildungsroman, als Tragikomödie, als Anthologie von Kurzgeschichten über Amelias Leben und ihrer Entwicklung von 1969-1994. Schwierig auch deshalb zu lesen, weil es zu viele Nebenfiguren- und Schauplätze gibt; die Einordnung des Erzählten zwischen fiktiver Romanrealität und Amelias Flashbacks wahnsinnig schwer fällt.

Und dennoch lautet mein Fazit: ich bin und bleibe einfach Fan von diesem außergewöhnlichen und unverkennbaren Burns-Stil: er ist authentisch, atmosphärisch, für mich positiv(!) experimentell, grotesk und schräg, sowie humorvoll und komisch - immer dann, wenn es im Grunde absolut nichts mehr zu lachen gibt. Das muss man erstmal schaffen.
Von diesem Stil werden sich vermutlich nicht alle angesprochen fühlen und „Amelia“ kommt für mich auch leider nicht an den geliebten „Milchmann“ ran (der ebenfalls fordernd und speziell ist). Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals ein Buch gelesen habe, in dem ich abwechselnd ein Kapitel großartig und ein Kapitel als nahezu nicht lesbar einordnen würde. Aber vielleicht oder sicherlich sollte man Bücher nicht vergleichen und für mich ist das Besondere erneut: die Übertragbarkeit des nordirischen Schauplatzes auf sämtliche Konfliktgebiete dieser Welt. Das schmerzt ungemein, macht nachdenklich und hallt extrem nach.