Gewalt und Verrohung im gebeutelten Belfast

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miro76 Avatar

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Mit "Milchmann" hat uns Anna Burns bereits tiefe Einblicke in die andauernden Konflikte in Nordirland geboten. Auch dieser Roman war nicht einfach zu lesen. Die sperrige Sprache und die alltägliche Gewalt waren nicht leicht zu ertragen. Ihr Debüt "Amelia", das erst jetzt auf Deutsch erschienen ist, ist noch ein ganz anderes Kaliber.

Die Autorin lässt uns in Episoden an Amelias Leben teilhaben. 1969, als die Konflikte so richtig ausbrechen, ist Amelia 8 Jahre alt - ein neugieriges Kind, das versucht die Welt um sich zu verstehen und in eine Zeit hineinwächst, die von Gewalt und Missbrauch durchdrungen ist.

Die arbeitende Klasse ist den Straßenkämpfen völlig ausgeliefert. Familien werden zerrissen, Freunde werden zu Feinden, Auge um Auge und nie, aber wirklich niemals davonlaufen, denn es gilt das Gesicht zu wahren. Lieber sehenden Auges in den Tod gehen, als Schande über die Familie bringen.

Amelia aber, geht einer Schlägerei lieber aus dem Weg. Sie flüchtet sich in ihre Magersucht, entfremdet sich immer mehr von ihrer gewalttätigen Familie und driftet schließlich in die Alkoholsucht ab. Sie weiß, dass sie ihrer Heimat den Rücken kehren muss, aber sie schafft es erst, als es fast zu spät ist. Sie nimmt ihre Neurosen mit in ihre neue Heimat.

Anna Burns zeigt uns mit diesem Roman, dass die über Jahre andauernde Gewalt auf den Straßen niemanden unbeeinflusst lässt. Sie greift um sich und zieht alle in ihren Bann. Ein Entkommen ist kaum möglich. Die Auswirkungen auf den Alltag und die Psyche der Betroffenen sind enorm.

Für meinen Geschmack veranschaulicht die Autorin das ein bisschen zu genau. Manche Szenen strotzen vor Gewalt, Verrohung und Missbrauch. Ich hätte das gerne nicht so detailliert geschildert gehabt. Ich hätte die Botschaft auch dann verstanden, wenn die Tragödien nicht so auserzählt gewesen wären. Das war mir schon fast zu viel.

Bei der Lektüre begleiten wir Amelia bis zu den Friedensverhandlungen 1994. Also fast dreißig Jahre ihres Lebens und doch kämpft sie immer noch mit ihren Wurzeln. Es gibt einen klitzekleinen Lichtblick am Ende, aber der innere Kampf ist längst nicht ausgestanden. Die vielen Toten, die am Wegrand liegen, machen das Überleben auch nicht leichter.

Das Buch ist sehr eindringlich und lässt bestimmt niemanden kalt, aber ich bin mir sicher, dass es vielen Leser*innen zu direkt, zu brutal und zu heftig ist und dadurch vielleicht sogar weniger Menschen erreicht, als es möchte. Mir hat es streckenweise viel Überwindung gekostet weiter zu lesen und deshalb kann ich auch nur 3 Sterne vergeben für diesen schonungslose n Roman, der wie ein lauter Hilferuf aus Belfast klingt.