Innerer und äußerer Krieg

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irisblatt Avatar

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„- dieser innerer Krieg muss nicht sein." "Natürlich muss der sein“, sagte Mr Hunch.“ (S. 165)

"Amelia" ist das bereits 2001 erschienene, erst jetzt übersetzte Debüt von Anna Burns, die vor einigen Jahren mit ihrem Roman „Milchmann“ den Man Booker Prize gewann.
Der Roman setzt 1969 mit dem Beginn des Nordirlandkonflikts ein und spannt einen Bogen bis ins Jahr 1994. Die achtjährige Amelia lebt mit ihrer Familie in Belfast, im Arbeiter-Stadtteil Ardoyne, in dem während des Bürgerkriegs besonders viele Menschen starben. Relativ zu Beginn des Romans sehen wir Amelia wie sie unter dem Tisch kauert; die Familie hat alle Fenster mit Brettern vernagelt, während verfeindete Gruppen versuchen, gewaltsam ins Haus einzudringen.
Fortan bestimmen unberechenbare Gewalt und Angst das Leben der Menschen, von dem Anna Burns bruchstückhaft, sehr eindringlich und mit großen zeitlichen Sprüngen erzählt. Rohe Gewalt ist allgegenwärtig; auch innerhalb der Familie wird auf Konflikte mit brutaler Gewalt reagiert. Es gehört zum ganz normalen Alltag, dass Familienmitglieder, Nachbar:innen und Klassenkamerad:innen sterben, Kinder missbraucht werden. Jugendliche wissen sehr genau wie Bomben gebaut werden, spielen zum Zeitvertreib Russisch Roulette und zerschießen sich dabei die Kniescheiben. Einige Szenen sind so brutal, so verroht, dass sie fast grotesk wirken; dabei fühlte ich mich in einem Abschnitt von der Atmosphäre an das Finale des „Seidenraupenzimmers“ von Sayaka Murata erinnert.
Amelia überlebt wie viele andere auch. Sie verlässt Belfast als Erwachsene, zieht nach London, erleidet einen Zusammenbruch und landet in der psychiatrischen Klinik. Die Überlebenden der „Troubles“ zahlen auch nach Beendigung des gewaltsamen Konflikts einen hohen Preis; sie leiden unter Alkohol- bzw. anderen Drogenabhängigkeiten, Essstörungen und diversen psychischen Erkrankungen.
Anna Burns schreibt mit einem ganz eigenen Sound. Thematisch und stilistisch erinnert vieles an den "Milchmann", wobei ich "Amelia" sprachlich als zugänglicher empfunden habe. Inhaltlich ist "Milchmann" aber wesentlich stringenter erzählt. Ich finde es beeindruckend wie Anna Burns das Grauen noch steigert, indem sie manchmal Gräueltaten an die Peripherie ihrer Beobachtung verbannt und den Fokus auf scheinbar Nebensächliches legt. So erinnert sie sich z.B. beiläufig wer alles erschossen wurde während ihre wichtigste Erinnerung an diesen Tag die heiße Sonne und die süße Schokolade zu sein scheinen. Das ist schwer zu ertragen, von der Wirkung aber unglaublich stark.
Wer etwas über die Entstehungsgeschichte und die Abläufe des Nordirlandkonflikts erfahren möchte, wird bei „Amelia“ nicht fündig. Anna Burns zeigt die Auswirkungen des Kriegsirrsinns auf die psychische Gesundheit des Menschen. Krieg läutet immer auch einen inneren Verwesungsprozess ein. „Amelia“ ist harte Kost, schonungslos erzählt und ist eines der hoffnungslosesten Bücher, die ich je gelesen habe.