Die Rekonstruktion eines Lebens

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marieon Avatar

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Jeder stirbt zweimal. Der erste Tod ist biologisch, der zweite durch das Vergessen(werden). Anna Kalthoff wurde 1867 geboren und starb 1932, ein Jahr vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Sie hinterließ wenige Spuren, denen ihr Urenkel gefolgt ist. Mit ein paar Fotos, Notizen, Schmuck und Poesiealben entsteht ein Bild, das viel Raum für Interpretationen lässt.

Das Dorf im Sauerland, in dem Anna aufwuchs, bestand aus gemauerten Häusern. Wer es sich leisten konnte, deckte sein Dach mit Schiefer, die anderen belegten ihres mit Stroh. Ein Funke von einer vergessenen Kerze konnte einen zum Habenichts machen. Ihr Vater war Schankwirt, die Mutter vermögend, darüber allerdings gibt es keine Nachweise. Ein Auszug aus dem Katasteramt zeigt, dass die Familie Kirchenland gepachtet hatte. Anna wurde als vierte Tochter geboren. Der einzige Stammhalter Friedrich starb drei Wochen nach seiner Geburt an Schwäche. Als Anna zwölf war, waren weitere vier Kinder geboren, auch die ersehnten Söhne, der Vater jedoch starb an Wassersucht. Ein Konflikt zwischen Herzogtum und dem Bischof führte dazu, dass die Katholiken vertrieben wurden. Deswegen ging Anna, auf Geheiß der Mutter, in die Niederlande und ließ sich zur Lehrerin ausbilden. Sie war zwanzig Jahre jung, nicht einmal volljährig, als sie an die Dorfschule nach Cobbenrode ging und unterstellte sich dem Lehrerinnenzölibat. Sie bekam einen geringen Loh, eine kleine Wohnung und eine kleine Altersvorsorge. Es gab wenige Erziehungsmodelle. Die meisten bevorzugen das Strafen und nicht das Loben, damit die Kinder nicht verweichlichten. Schläge als Bestrafung waren normal. Der gesellschaftliche Tenor war Gottesfürchtigkeit, denn der Herr gibt und nimmt. Die Leutseligen waren beliebter als die verschrobenen Stillen. Schaffen und Ausharren waren selbstverständliche Attribute, die den zähen Charakter auszeichneten.

Fazit: Henning Sussebach ist den Spuren seiner Urgroßmutter gefolgt. Die wenigen Informationen, die er im Vorfeld zusammentragen konnte, halfen kaum bei der Rekonstruktion. Er vermutet viel, interpretiert und bewertet aus seiner heutigen Sicht. Ein objektives Bild ist ihm nicht möglich. Interessant finde ich seine Einschübe, die zeigen, was in dem entsprechenden Jahr bei Anna geschah, aber auch in der Welt. So zum Beispiel 1887:

Die Uraufführung Othellos in Mailand.
Nord- und Ostsee werden durch einen Kanal verbunden.
Der Eiffelturm entsteht.
Ein holländischer Maler zieht nach Frankreich.
Die Schweizer entwickeln die Würze Maggi.

Und so ist dem Autor eben nicht nur die Wiedererweckung Annas, sondern auch ein Zeitzeugnis gelungen. Ich muss gestehen, dass mich die Geschichte Annas auch runtergezogen hat. Es war kein Vergnügen, in diesen Zeiten als Mädchen geboren worden zu sein, eher ein Überlebenskampf. Auch die Verluste, die Anna hinnehmen musste, die Schrecken des 1. Weltkriegs, das hat mich alles ganz schön niedergeschlagen. Meine Empfehlung für alle Leser*innen, die sich für Historien interessieren