Vor dem Vergessen bewahrt

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Was bleibt von einem Leben? Ein paar Fotos. Wahrscheinlich. Ein Familienstammbuch. Vielleicht. Ein paar Briefe oder Dokumente. Kann sein. Ein paar Erbstücke. Wenn man Glück hat. Henning Sussebach sagt, jeder Mensch stirbt zweimal. Das erste Mal physisch. Das zweite Sterben vollzieht sich langsamer, es ist dann vollendet, wenn sich niemand mehr an diesen Menschen erinnert. Also wahrscheinlich, wenn niemand mehr am Leben ist, der ihn noch persönlich gekannt hat. Henning Sussebachs Buch „Anna oder: Was von einem Leben bleibt“ ist der Versuch, seine Urgroßmutter Anna vor diesem Vergessen-Werden zu bewahren. Um ihre Geschichte niederzuschreiben hat er zusammengetragen, was zu finden ihm möglich war. Ein paar Fotos, ein paar Dokumente. Anhand der bekannten Daten und Stationen ihres Lebens hat er nachgeforscht und mit mühevoller Recherche viele Details herausgefunden. Eine zeitraubende Tätigkeit, bei der er viel Hilfe benötigt und erhalten hat. Trotzdem sind Lücken geblieben. Was und wie hat Anna gedacht? Wie war sie eingestellt? Als Lehrerin soll sie eine große Handschrift gehabt haben, eine Formulierung, die ein Synonym ist: zu ihrer Zeit war die Prügelstrafe an der Tagesordnung, und laut Überlieferung hat sie davon gerne und oft Gebrauch gemacht. War sie also eine harte Frau? Oder hat sie sich lediglich zeitgemäß verhalten? Annas Leben war nicht unbedingt typisch für ihre Zeit. 1866 ist sie geboren. Schon sehr früh, als 12-jährige, hat sie das elterliche Haus verlassen, um eine Schullaufbahn einzuschlagen, die es ihr ermöglichte, Lehrerin zu werden. Das muss nicht unbedingt ihr Wunsch gewesen sein. Doch ihr Vater war gestorben, und ihre Mutter wollte für alle Kinder das Bestmögliche arrangieren. Zum Heiraten war Anna zu jung, also musste sie für sich selbst sorgen können. Viele Möglichkeiten hatten Frauen dazu damals nicht. Ob Anna wohl Heimweh hatte? Solche Fragen sind es, die die beste Recherche nicht beantworten kann. Aus der Gesamtheit der Daten und Belege setzt der Autor ein Bild zusammen. So könnte es gewesen sein, Annas Leben. Vielleicht.

Wer sich einmal mit Ahnenforschung befasst hat, kann sich einigermaßen vorstellen, wie tief Henning Sussebach eingetaucht sein muss in Annas fernes Leben. Wie sie für ihn Gestalt angenommen hat. Annas Geschichte ist zugleich eine Gesellschaftsgeschichte, weil sie sich ohne diesen Hintergrund nicht erklärt. Kann sein, dass Anna eine ganz gewöhnliche Frau ihrer Zeit war, die sich nach jedem Schicksalsschlag wieder berappelt und aus ihrem Leben das Bestmögliche gemacht hat. Vieles war ungewöhnlich in ihrem Leben, und mir scheint, sie war eine besondere Frau. Henning Sussebach hat sie wieder an die Oberfläche geholt und sie mit seinem Buch unsterblich gemacht. Ihr ein Denkmal gesetzt. In gewisser Weise ist dies ein Denkmal für unser aller Urgroßmütter, denn jede von ihnen könnte eine Anna gewesen sein. Den Gedanken finde ich tröstlich, denn in den meisten Fällen wissen wir es heute nicht mehr. Leider.

Ein wunderschönes Buch für jede und jeden, die/der sich für Geschichte interessiert und Ahnen- oder Familienforschung betreibt. Und wer das noch nicht tut, wird nach der Lektüre das Bedürfnis haben, damit anzufangen.

Henning Sussebach ist Jahrgang 1972 und Redakteur bei der Wochenzeitung DIE ZEIT.