Sex als Mittel zur Überwindung von Trauer

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
barbara62 Avatar

Von

In der Literatur gibt es unzählige Versuche, den Tod der Eltern zu verarbeiten: John von Düffel ("Hotel Angst") reist nach dem Tod des Vaters nach Bordighera, wo die Familie ihre Sommerurlaube verbracht und der Vater seinen Lebenstraum gelebt hat, Helen Macdonald richtet in "H wie Habicht" im Gedenken an den verstorbenen Vater ein Habichtweibchen ab, Simone de Beauvoir reflektiert in "Ein sanfter Tod" das schwierige Verhältnis zur Mutter und Milena Busquets versucht, ebenfalls autobiografisch inspiriert, ihre ca. 40-jährige Romanheldin Blanca den Tod der Mutter im Sex vergessen zu lassen („Sex gefällt mir, weil er mich im Hier und Jetzt festzurrt.“)

Der kurze Roman beginnt und endet auf dem Friedhof von Cadaqués, einem katalanischen Ferienort an der Costa Brava, gut zwei Autostunden von Barcelona entfernt. Das Begräbnis zu Beginn und der erste Besuch am (geschlossenen) Friedhof rahmen die Handlung ein. Dazwischen liegen wilde Tage, die Blanca zusammen mit ihren beiden Söhnen, den beiden verflossenen Ehemännern, dem aktuellen Liebhaber und Freunden in ihrem Sommerhaus verbringt. Partys, Bootsausflüge, Drogen, Alkohol und Sex bestimmen die Tage. Die Ich-Erzählerin Blanca, von Trauer und Melancholie durchdrungen, begegnet in ihren Gedanken immer wieder der verstorbenen Mutter, reflektiert das nicht unproblematische gemeinsame Leben, die Krankheit und den Tod.

Doch trauert sie wirklich nur um die Mutter? Mir kamen ihre Orgien der Selbstbemitleidung und Jammerei („Manchmal fühle ich mich, als ob ich alles verloren hätte“) eher so vor, als ob sie um sich selbst trauert, den Verlust der Jugend. Wer sich wie sie nur über ihre Männer, ihre Affären und über ihr Aussehen definiert, den muss der Gedanke an das Alter und die Vergänglichkeit besonders schrecken.

Die Beurteilung dieses Romans fällt mir ausgesprochen schwer. Einerseits kann Milena Busquets wunderbar atmosphärisch und virtuos schreiben. Ihre Sätze sind eine Liebeserklärung an die Sprache und klingen nach. Auch mir kam immer wieder der Vergleich mit Françoise Sagan in den Sinn. Andererseits konnte mich die Protagonistin in ihrer Selbstbezogenheit und Oberflächlichkeit zu keiner Zeit überzeugen. Wann denkt sie jemals an andere, ihre Kinder zum Beispiel, die die Großmutter verloren haben? Welches Männer- und Frauenbild hat diese Frau, die scheinbar ohne arbeiten zu müssen und mit einem Kindermädchen ausgestattet, nur dem eigenen Vergnügen frönt? Hat die Generation der heute Vierzigjährigen wirklich so wenig aus der Emanzipationsbewegung mitgenommen?

Beim heftigen Schwanken zwischen drei und vier Sternen entscheide ich mich für vier, weil mich der Roman trotz aller Kritik gut unterhalten hat und ich schließlich nicht über die Protagonistin zu urteilen habe.