Ästhetisch und sinnlich

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soulmatereader Avatar

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Der Soldat dreht sich zu ihr um. Er ist schwarz, und sein Haar wird allmählich weiß. „Haben Sie Durst?“, fragt er, füllt seine Hand mit Wasser und hält sie ihr hin. „So haben wir aus dem Fluss getrunken.“
„Ja, bitte.“
Sie beugt sich vor und trinkt. Mit der Zunge leckt sie die letzten Tropfen Wasser aus seiner Hand. Seine Hand ist rau wie ein Wetzstein.
(S.56)

Jennifer Clements Roman „Auf der Zunge“ ist die Geschichte einer jüdischen Frau, die sich aus den Fesseln der erkalteten Beziehung zu ihrem Ehemann lösen will und gewissermaßen „ausbricht“. Eigentlich handelt es sich dabei weniger um einen Roman als um eine poetische Erzählung bruchstückhafter Begegnungen und Gedanken. Die Protagonistin trifft in den Straßen New Yorks auf unterschiedliche Männer: einen Arzt, einen Soldaten, einen Dichter, einen Löwenbändiger und noch viele andere. Jeder von ihnen hat seinen eigene Geschichte oder etwas, was er der Frau geben möchte. Dabei kommen ihre Schmerzen und Sehnsüchte ans Licht und auch ihre Gedanken, für die in ihrer Ehe kein Raum ist.

Besonders gefallen hat mir an „Auf der Zunge“, dass es zwar ein kurzes und schnell zu lesendes Buch ist, aber dabei viel Gefühl und Bilder transportiert. Die Dialoge sind abstrakt und wirken teilweise weltentrückt, was für mich aber gerade den Reiz an Clements Werk ausmacht. Es geht nicht darum, alles, was passiert, auf Anhieb zu verstehen. Vielmehr wird der Leser in eine Art Traumwelt entführt, durch die er der Frau und ihren Gedanken folgt. Die sinnliche und ästhetische Sprache ist dabei Hauptwerkzeug der Autorin und ist meiner Meinung nach eine ihrer ganz großen Stärken!