Experimentelle, poetische Prosa!

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
co_winterstein Avatar

Von

🏢 Auf der Zunge 🏙️

In Jennifer Clements Roman Auf der Zunge wandert eine Frau durch die Straßen von New York City. In ihrer langen Ehe mit einem Anwalt sind sie sich fremd geworden und die Trennung steht bevor. Auf ihrem Streifzug durch Manhattan begegnet sie den unterschiedlichsten Männern. So zum Beispiel einem Arzt, mit dem sie in die Praxis geht. Sie hören sich gegenseitig das Herz ab. Alle Menschenherzen klingen unterschiedlich❤️ (eine schöne Stelle auf S.41).
Sie trinkt aus der Hand eines Soldaten Wasser, das er aus dem Brunnen schöpft, wird von ihm durch den Park getragen und er erzählt ihr vom Krieg.
Unter dem Regenschirm eines Musikers erscheint es ihr, als wären sie in einem vorherigen Leben verheiratet und jetzt wiedergeboren worden. Sie spricht mit Louis Pasteur, den sie in einem Buch trifft, über die von ihm erfundene Tollwutimpfung. Mit einem Räuber reist sie in die Wüste Bar Bela Ma und zurück. Auf dem Schoß eines Löwenbändigers sitzend, erzählt er ihr vom Zirkus. Außerdem spricht sie mit einem Maler über den zersägten Spiegel seiner Urgroßmutter.

Das Buch ist kein klassischer Liebesroman, sondern eher der experimentellen Prosa zuzuordnen. Die Protagonistin wandelt durch verschiedene Jahrhunderte, durch ihre eigenen Traumsequenzen, dann wieder durch das New York von heute, zuweilen erscheinen Phantasiefragmenten. Nicht immer war mir klar, auf welcher Ebene ich mich als Leserin gerade befinde.
Die Sprache ist recht lakonisch, manchmal poetisch und der Text in viele Absätze gegliedert.

In meinen Augen ein philosophisches Werk über die Liebe. Folgende Fragen schweben für mich über allen Begegnungen der Protagonistin:
»Kann man jemanden lieben, dem man nie begegnet ist? Kann man jemanden aus der Vergangenheit lieben, aus einer anderen Zeit? (S. 94).«

Mir hat das Buch sehr gut gefallen, deshalb eine große Leseempfehlung für alle, die sich der Liebe gerne in philosophischen und experimentellen Ansätzen nähern.

Vielen lieben Dank an den @suhrkampverlag und @vorablesen für das Rezensionsexemplar ❤️