Träumereien

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amaryllis2 Avatar

Von

Auf der Zunge
von
Jennifer Clement

Das Cover zeigt eine moderne jüdische Mutter, die offenbar kurz ausbricht.

Der Bucheinband zeigt die verschwommene Silhouette der Frau. Sie trägt ein ganz einfaches gestreiftes T-Shirt-Kleid. Gefangen und abhängig vom Mann.

Das Thema "Auf der Zunge" beginnt mit der Vorstellung eines langjährigen jüdischen Ehepaars, Eltern einer erwachsenen Tochter, bei ihrer geübten Routine: das Paar geht seit Jahrzehnten jeden Freitag auswärts essen. Ein oberflächliches Gespräch. Eine kleine Chance, wieder
mehr Nähe und mehr Verständnis von ihrem Mann zu erlangen. Sie erwartet jedoch, dass der Mann ihre Vorstellungen errät.

Die Geschichte wird aus der Perspektive der vernachlässigen Ehefrau entwickelt. Es ist ihr Monolog. Ihr Mann ist unsichtbar, abwesend, wohl in seiner Anwaltspraxis, nicht an ihrer Seite, nutzt seine Chance nicht. Seine Frau fühlt sich vernachlässigt und alleingelassen in der Wohnung mit seiner Kleidung, seinen Hüllen. Er wird wohl sehr bald zurück kommen.


Die Ehepartner sollten sich mehr umeinander kümmern. Bemerkt ihr Mann gar nichts?
Seine Frau versucht fehlende Zärtlichkeit zu kompensieren, durch oberflächliche Kontakte, fühlt sich schuldig, kann mit dem Mann nicht darüber sprechen. Das ist traurig. Er fragt immerhin etwas unbeholfen: wo warst du?

Die Frau erfährt flüchtige Begegnungen, Gespräche, und auch Zärtlichkeiten. Geschenke, auch gute Ratschläge, Gegenstände wie ein Ehering von einem fremden alkoholabhängigen Arzt. Die Heilkraft der Medizin. Ein Pfirsich, das Geschenk eines Strassenhändlers ist in der Phantasie plötzlich ein Apfel. Lebensmittel, eine Quelle der Kraft. Ein Vogel im Käfig erscheint wie eine Schlange, wie bei Adam und Eva. Ein Kieselstein versinkt im roten Meer, eigentlich ein städtischer Badebetrieb. Ein Gedicht auf einem dem abgenutzten Zettel, eines Veteranen. Ein Päckchen Drogen, begleiten sie auf ihrem weiteren Weg.

Sie "vermählt" sich mit einem alkoholabhängigen Arzt, schließlich mit einer obdachlosen Frau. Ein Verkehrspolizist sorgt sich um sie.
Ab Seite 125 folgen Zitate aus diversen Büchern.

Die Frau besucht verschiedene Plätze ihrer Heimatstadt New York. Das Ausbrechen aus ihrer Komfortzone ist nicht völlig ungefährlich. Sie begegnet zwielichtigen Gestalten. Sie traut sich nicht, ihre Gedanken laut zu äußern. Die ungesagten Wünsche liegen "auf der Zunge", bleiben ungesagt.

Vor der Rückkehr ins Zuhause zoomt sie ins Jahr 1896 zurück. Ein kleines Mädchen verunglückte tödlich, direkt vor dem Gebäude, kurz bevor seine Mutter völlig ahnungslos von der Arbeit zurück kehrte. Eine kleine tragische Zeitreise zurück. Wie schrecklich, wenn das Kind vor den Eltern stirbt.

Ursprünglich stammt die Mutter aus einer ukrainischen Stadt. Sie fühlt sich unattraktiv, hat Angst vor Vertreibung, ihr jüdisches Erbe denkt sie, vor gesellschaftlichem Abstieg. Ihre glückliche Jugendzeit mit ihren Eltern und ihrer bejahrten Grosstante, gibt ihr Kraft.
Wo ist die erwachsene Tochter der Frau inzwischen? Kann sie ihr Halt geben? Darüber wird nichts bekannt.

Schließlich betritt die Obdachlose auf Zeit, sie fühlt sich so, wieder ihren absicherte Wohnung, ihre Zuflucht. Dort hat sie viele Jahre gelebt und gearbeitet. Sie hat auch viele praktische Fähigkeiten und Talente.
Wird ihr Mann bald nach Hause kommen?

Der Schreibstil ist konkret hinsichtlich der Ortsbeschreibungen. Die Feuertreppen New York's, der Plätze und bekannten Straßen, die fast jeder gut aus New-York-Besuchen oder amerikanischen Filmen, kennt sind akribisch beschrieben. Ungewöhnliche Einzelheiten über die Lebendigkeit der Treppen
erfährt man im Buch.

Die Männer bleiben konturenlos, namenlos. Wie ihr Mann definiert über den Beruf. Erhalten diese etwas persönliche Ecken und Kanten. Letztendlich sind sie alle ohne größere Bedeutung für die Frau. Sie kommen und gehen.

Zur Authenzitaet: die Anonymität in der Großstadt New York wird treffend beschrieben. Man kommt sich zwar schnell nah, geht jedoch unverbindlich schnell wieder auseinander. Herzlich einerseits und offen, distanziert und verschlossen andererseits, auch sehr egoistisch und wenig sozial. Ein jeder hat seine Probleme, kommt irgendwie klar.

Die Hauptfigur des Romans arbeitet ehrenamtlich in einer Bibliothek. Sie liest viel. Eine durchaus sympathische und menschliche Person. Eine gute Zuhörerin.

Vermengt sie in den geschilderten Begegnungen reale Elemente mit Szenen aus Büchern mit Tagträumen. Lindern die Verquickungen wirklich ihren Schmerz. Inwiefern findet sie Trost in "ihrer Stadt", ist alles oder das meiste ein Trost spendendes Hirngespinst.

Die Phantasie gipfelt im Höhepunkt in einer intensiv erlebten Begegnung mit einem Astronauten mit dem sie zum Meeresgrund in ein Schiffswrack sinkt. Sie ist seine Ergänzung. Eine Reise vom All zum Meeresboden. Das ist Fiktion.

Sie wechselt nun sogar das Geschlecht in der nächsten Begegnung, mit einem jüdischen Musiker im Regen ist sie der Mann und er die Frau. Sie ist der Regen des Regenmannes. Die heilende Kraft der Musik.
In der Phantasie wird vieles Unmögliche möglich.

Sie denkt auch konkret über Scheidung nach, die Aufteilung des Hausrats, doch wie soll sie auf sich gestellt wirtschaften? Hilft ihr Arbeitgeber?

Das sind meine ganz persönlichen Eindrücke. Ich habe die Lektüre an zwei Tagen mitverfolgt. Der Titel "auf der Zunge".

Die Autorin, Jennifer Clement hat bereits erfolgreich Filmvorlagen verfasst.

Das Buch weckt nicht nur bei mir das Interesse für die weiteren Werke der Schriftstellerin.
Zwei Romane über Frauenschicksale in Mexiko. Beide Werke sind gesellschaftskritisch. Die Zustände in Mexiko müssen verbessert werden.

Dieser Roman hat ein anderes Thema. Die Frau zeigt uns ihre kleine Welt.
Vieles wird angerissen, nicht ausgearbeitet. Das Empty Nest Syndrom, die Qualität der Partnerschaft danach, Midlife-Crisis, Emanzipation, die heilende Kraft der Gemeinschaft und der Phantasie, der Religion, alles Kraftquellen.
Ob es ein Bestseller wird, gut möglich.

Ein Plädoyer für die Liebe.