Prosaartige Poesie

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Eine Frau spaziert durch New York, versucht ihrem Leben und vor allem ihrer Ehe mit Tagträumerei zu entfliehen und stürzt sich darin regelrecht in die Arme andere Männer. Da ist ein Polizist, ein Banker, ein Maler, ein Dichter, ein Löwenbändiger. Sie bekommt Dinge, findet sie, verschenkt sie und verliert sie. Sie taumelt ohne Ziel, will einfach nur nicht nach Hause.
„Auf der Zunge“ von Jennifer Clement zusammenzufassen ist schwierig, denn es hat eigentlich gar keinen richtigen roten Faden, zumindest habe ich ihn nicht gefunden. Oft wusste ich nicht, ob die Dinge, die gerade erzählt werden, wirklich von der Frau erlebt werden oder sie es sich erträumt, vielleicht ist auch alles nur in ihrem Kopf. Es passiert viel, aber eigentlich passiert gar nicht. Was auch ok wäre, wenn alles nicht so verwirrend wäre. Vielleicht ist gerade das eine Anspielung auf das Leben, auf das Sein, dass nunmal nichts so ist wie es scheint, aber etwas Konkretes hat mir doch gefehlt, etwas was woran ich mich hätte orientieren können. Dieses Taumeln hat mich am Ende etwas genervt. Die Sprache ist poetisch und bildhaft, passend zur Tagträumerei, aber mir durch den fehlenden Faden doch etwas zu abstrakt.
Zwar steht auf dem Umschlag Roman, doch für mich mutet es eher wie ein sehr langes Gedicht an. Es ist lyrisch, aber auch prosaartig, irgendwie nicht richtig greifbar und das empfand ich als anstrengend. Zudem war mir die Frau etwas zu passiv, sie hat alles mit sich machen lassen, ist den Männern gefolgt, hat sich von ihnen packen lassen. Ich muss gestehen, ich bevorzuge zupackende Frauen, Frauen, die sich nehmen, was sie wollen.
Trotzdem hat es mich neugierig auf die anderen Romane von Jennifer Clement gemacht, auf „Gebete für die Vermissten“ und „Gun Love“. Ich kann mir gut vorstellen, dass das lyrische mit einem etwas Konkreterem mir durchaus gefallen könnte.