Sprachpralinen

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emmmbeee Avatar

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Eine Frau versucht, vor der Strenge ihres Ehemannes zu fliehen, um nicht erdrückt zu werden. Sie streift durch die Stadt New York und begegnet verschiedenen Menschen, meist Männern, und lässt sich auf sie ein.
Ist es nur Fantasie, oder geschieht dieser Frau wirklich, was die Autorin von ihr erzählt? Anfangs habe ich nur schwer hineingefunden, in dieses Buch, das kein Roman sein will. Dann aber genoss ich zunehmend die anspruchsvolle Sprache, die bilderreich, fantasievoll, poetisch, alle Sinne ansprechend daher sprudelt.
All die Begegnungen, die Jennifer Clement beschreibt, müssen einem erst einfallen. Und was sie daraus macht, ist ein Bilderbogen, der sich kreuz und quer durch eine Großstadt spannt. Auch wenn es nicht immer gleich offensichtlich ist, führt eine Begegnung zur anderen. Immer wieder kommen die Feuerleitern an den Hauswänden vor, die Schutz und Einbruchsgefahr gleichzeitig darstellen. Besonders angesprochen hat mich das kurze Kapitel vom Astronauten, das vollends wie ein surreal atemloser Traum klingt.
Ja, es ist eine Sehnsuchtshymne, der Ausbruch einer eingeengten Frau, die nur durch diese Spaziergänge den kontrollierenden Ehemann kompensieren kann. Das Fremdgehen, meist wohl nur in ihrer Fantasie, lässt sie die festgefahrene Ehe ertragen. Ihr Mann sollte froh sein, dass sie diese Tür gefunden und geöffnet hat.
Das Buch bietet einiges an Philosophie und jüdischer Weisheit. Schon deshalb darf man es nicht überfliegen. Vielleicht, damit wir beim Lesen innehalten und die einzelnen Sprachpralinen intensiver goutieren, lässt Clement zwischen den kurzen Texteinheiten Zeilenabstände wie zwischen einzelnen Abschnitten. Das verleiht der Geschichte eine zusätzliche Leichtigkeit. Die vorletzte Seite habe ich mehrmals gelesen, um die Aussagen in ihrer Vielfalt in mich aufzunehmen.
„Auf der Zunge“ ist eins der wenigen Bücher, bei denen ich bedauert habe, dass ich am Schluss angekommen war.